das längste Kapitel bisher!
Kapitel XLIII: Im Turm
Die Schritte machten keine Geräusche, nahezu lautlos glitten die Füße des jungen Mannes über den Boden, aber die langen, schwarzen Roben, die schwer an seinen Schultern hingen, raschelten leise auf dem Boden und kündigten das Kommen des Lehrlings an. Der junge Mann schritt einen langen Gang entlang, der sehr dunkel war, denn in der Akademie der Lehre der Schatten gab es so gut wie keine Fenster und nur ein paar vereinzelte Leuchter, auf denen violette, seltsam duftende Kerzen standen, erhellten den Flur. An seinem Ende gabelte sich der Gang und man konnte entweder den Weg in die Katakomben Altdorfs hinab-, oder in den hohen Turm der Akademie hinaufsteigen, in den nur jene Zutritt hatten, die Meister ihres Fachs waren. Er würde den Turm nie betreten dürfen, dachte Archbalduin bitter. Seine Lehrmeister bremsten ihn aus, behinderten ihn, verwehrten ihm ersehntes Wissen, doch er würde das nicht einfach so hinnehmen. Sie hatten Angst vor ihm, das wusste er. Erst vor zwölf Jahren war er an die Akademie gekommen, obwohl er mit seinen elf Jahren eigentlich schon viel zu alt gewesen war, um noch aufgenommen zu werden. Doch man hatte eine Ausnahme gemacht, die nun die Meisten hier bereuten. Nie zuvor hatte ein Schüler so schnell so viel Wissen wie er zusammen raffen können, hatte so schnell gelernt. Doch mit seinem Wissen kamen andere Neigungen, die von der Dunkelheit, die in dem großen Gebäude überall lauerte, nur noch gestärkt wurden. Seine Interessen bewegten sich weg von der Magie des Schattens und wandten sich der des Todes zu.
Archbalduin liebte es, mit den Seelen anderer Wesen spielen zu können, sie zu foltern, zu martern, bis seine Opfer den Verstand verloren.
Zuerst hatte er seine sadistischen Bedürfnisse nur an niederen Kreaturen wie Tieren und Homunkuli befriedigt, doch schon bald wurden auch seine Kameraden zu seinen Spielzeugen. Der viel begabtere Archbalduin folterte solche, die er für unwürdig, für schwächlich und untalentiert empfand.
Nach vier Jahren an der Akademie hatte er schon drei andere Studenten getötet. Zwei von ihnen waren mehr als zehn Jahre älter als er gewesen.
Nach nur vier Jahren hatte die Schule sein Herz verdorben, die böse Magie seine Seele durchdrungen.
Anfangs hatten die Lehrmeister an der Schule respektvoll zugesehen, wie der junge Mann lernte, hatten auch nicht eingegriffen, als er seine Kameraden angegriffen hatte, denn in der Akademie gab es keine Regeln. Jeder musste es von sich aus schaffen zu überleben. Wer Freunde fand wurde nicht stärker, sondern schwächer, das war Archbalduin schon früh klar geworden. Wer Freunde hatte, hatte Spaß, wer Freunde hatte lernte nicht. Sein erstes Opfer war sein bester Freund gewesen, der fast zwei Jahre jünger als er gewesen war.
Als Archbalduin an die Akademie gekommen war, hatten sich alle darum gerissen sein Freund zu sein, weil er so viel Erfolg hatte. Er hatte aus ihnen nach belieben wählen können. Nach diesem Vorfall war er ab sofort immer allein. Alle mieden ihn, doch er störte sich nicht daran, denn er wollte es so. Er hatte immer Zeit zum Lernen, er lernte, wenn die anderen an Feiertagen zu ihren Familien gingen, oder in ihren freien Stunden Zeit darauf verschwendeten Spaß zu haben. Niemand störte ihn, er war immer allein, konnte lernen und sollte doch mal jemand seine Konzentration beeinträchtigen, konnte er auch üben.
Ein grausiges Lächeln umspielte die Lippen des Zauberers. Nun hatten auch einige der Lehrmeister Angst vor ihm, doch niemand wagte es ihn anzutasten. Schon einmal hatte man versucht ihn zu beseitigen, eine Gruppe von anderen Studenten hatte ein Attentat vorbereitet. Es hatte vier weitere Tote gegeben. Archbalduin war nicht unter ihnen gewesen.
In den vergangen acht Jahren war die Liste seiner Opfer um siebzehn weitere ergänzt worden. Alles Studenten. Nicht einer war ihm ebenbürtig gewesen.
Vor den anderen Lehrlingen hatte er schon lange keine Angst mehr, doch vor seinen Meistern musste er sich hüten. Er war längst nicht so mächtig wie sie, auch wenn sie es befürchteten.
Vielleicht, dachte er, wäre ich schon längst tot, würde ich nicht unter seinem Schutz stehen. Unter seinem Schutz. Obwohl er bei ihm in Ungnade gefallen war und sie einander hassten, bewunderten sie sich gegenseitig und Talgamin, der zweite der Meister der Schatten hatte ihn, Archbalduin in seine Obhut genommen. Deshalb traute sich niemand mehr ihn offen anzugreifen. Der erste unter den Meister des Schattens hatte sich vor über dreihundert Jahren eingeschlossen in einem Raum, tief in den Kerkern der Akademie und allen verboten, den Raum zu betreten. Seitdem dringen jede Nacht entsetzliche Geräusche aus den Tiefen der Keller und hallen in dem ganzen Gebäude wider. Eines Tages hatte angeblich ein Kollege des Ersten versucht, die Tür, die den Raum versperrte zu öffnen.
Noch heute konnte man die grausig entstellte Leiche bewundern, die seit über zweihundert Jahren nun vor der Tür lag und nicht verwesen wollte. Ein leichtes Schaudern ergriff ihn, als er an sie dachte.
Er hatte die Gabelung erreicht und blickte hinter sich in den Gang zurück, um sicher zu gehen, dass ihm niemand gefolgt war. Als er sich ausgiebig davon überzeugt hatte und sogar einen Zauber gewebt hatte, der das, was für das menschliche Auge verborgen war, sichtbar machte, bog er links ein und begann die Stufen zu dem, ihm verbotenen Turmzimmer zu erklimmen. Er würde sein Wissen bekommen, auch wenn er es stehlen musste. Es war nicht das erste Mal, dass er Wissen stahl, heimlich in Büchern las und Schriftrollen an geheimen Orten versteckte, wo er immer wieder Zugriff auf sie hatte. Während seiner bisherigen Zeit an der Akademie hatte er mit Hilfe seiner Magie viele kleinere Verstecke erschaffen, die nicht einmal die Meister finden würden, solange sie nicht danach suchten. Ihm war klar, dass Talgamin um einige dieser Verstecke wusste, der Mächtige verriet es ihm mit seinen Blicken, doch der Zweite duldete es stillschweigend.
Vorsichtig tastete Archbalduin die schmale Treppe alle zwei Schritte mit Händen und Sinnen ab, darauf vorbereitet jederzeit auf eine Falle stoßen zu können. Er zählte alle Stufen, um sich bei seinem Rückweg genau merken zu können, wo er Anomalien gespürt hatte. Die Magie der Schatten war tückisch. Es war möglich, dass er unbehindert in den Turm spazierte, stundenlang lesen konnte, was er wollte und wenn er dann unbedacht die Treppen hinunter lief, es ganz plötzlich vorbei war. Manche Zauber funktionierten nur in eine Richtung. Er vergaß nicht eine Stufe, konnte sich alle merken, wusste genau, wie jede aussah. Sein Gedächtnis war brillant.
Bei Stufe vierhundertzwölf wäre er beinahe blind in sein Verderben gerannt. Hätte die Ratte nicht versehentlich gepiepst, hätte er sie in den Schatten zusammen gekauert nicht gesehen und man hätte ihn auf frischer Tat ertappt. Gerade noch rechtzeitig hatte er das Tier einfangen können, fast wäre sie in einer Nische verschwunden und er vermochte es nicht, den verzauberten Stein der Akademie zu formen. Nicht einmal Talgamin war dazu in der Lage.
Zornig riss er das Tier hoch und sog ihr, mit vergnügtem Zucken im Gesicht ihr Lebenslicht aus. Als winzige goldene Kugel waberte es in seiner Handfläche und noch kurz ließ er das Licht flimmern und zucken, folterte es genüsslich, dann ließ er es hart, kristallisch werden, ließ es fallen und sah zu, wie die Kugel leise klirrend zersprang und wie die einzelnen Bruchstücke unter der magischen Geste seiner Hand einfach verschwanden. Die Ratte war ein Homukulus gewesen, der ihn beinahe verraten hätte.
Noch mit schlotternden Knien, stieg er die Treppe weiter hinauf. Der Schock saß ihm tief in den Knochen, dieses kleine Mistvieh hätte beinahe den Faden durchgeknabbert, der das Henkers Beil über seinem Kopf hielt. Er rügte sich selbst für seine Unachtsamkeit, die ihn mehr als sein Leben hätte kosten können, fluchte, doch er dachte nicht daran umzukehren, denn seine Gier nach Wissen war stärker als alles andere. Zehnmal aufmerksamer als zuvor lief er weiter.
Bei Stufe dreitausendneunhundertundeinundsechzig war sein Abenteuer vorerst beendet. Er stand vor einer unverhältnismäßig starken Anomalie. Er spürte sie so stark, dass er glaubte, er könne sie berühren, würde er die Hand ausstrecken. Vielleicht konnte er das sogar, doch dann wäre er vermutlich tot, oder etwas anderes würde passieren, das ähnliche, oder sogar schlimmere Folgen haben mochte. Er fluchte. Er war so nah dran gewesen. Aus Büchern wusste er, dass der Turm genau fünftausend Stufen hatte. Nur noch ungefähr zwanzig Windungen der Wendeltreppe und er würde vor der Tür stehen, würde ihre Klinke greifen und sie öffnen können. Mist! Verdammt! Nervös kaute er an seinen Nägeln, wippte unruhig mit den Füßen auf und ab. Schweiß stand ihm auf der Stirn, ihm wurde in seinen dicken Roben immer heißer. Narr, schalt er sich selbst, du darfst jetzt nicht unruhig werden, denk nach, was kannst du tun? Er ertastete die Anomalie nochmal mit seinen Sinnen, suchte einen Schwachpunkt... fand keinen. Er fluchte leise. Denk nach, denk nach. Tonnen von Wissen lagerten in dem Turmzimmer, er musste es bekommen, aufnehmen, sich einverleiben. Er biss sich versehentlich auf den Finger und er schrie auf. Ärgerlich schüttelte er die Hand, um den Schmerz zu vertreiben, wobei ein paar Blutstropfen von seinem Finger auf die Stufen spritzten. Sie lagen nur wenige Sekunden dort, dann dehnte die Anomalie sich plötzlich aus, und verschlang die rote Flüssigkeit förmlich. Sich einverleiben, schossen ihm seine eigenen Worte plötzlich nochmal durch den Kopf, natürlich. Ihm war eine rettende Idee gekommen, die Lösung, ein Gedankenblitz. Die Falle war gar nicht zu umgehen, es war also ein Trick mit doppeltem Boden. Die Anomalie würde sich alles einverleiben, auch magische Energien, die man gegen sie aufbrachte. Es war unmöglich, sie unwirksam zu machen. Sie war wie ein intelligentes Wesen, man konnte es in Ketten legen, aber man konnte sie nicht kontrollieren, sie beschützte sich selbst, nicht einmal einer der Meister konnte den Zauber noch beenden. Das ließ nur einen logischen Schluss zu: Es musste noch einen anderen Weg nach oben geben. Er überlegte kurz, ein Geheimgang genau hier wäre unlogisch - zu offensichtlich. Allerdings fielen ihm auch keine Besonderheiten dieser Art an irgendwelchen Stufen mehr auf. Er versuchte jede einzelne nochmal durch zugehen, und stellte ärgerlich fest, dass er sechsundzwanzig Stufen vergessen hatte. Er wusste nicht mehr, wie sie ausgesehen haben, hatte die Beschaffenheit an den Wänden vergessen. Kurz überlegte er, ob er nochmal zurück gehen sollte und sich die Stufen ansehen, im schlimmsten Fall müsste er nur nochmal knappe sechshundert hinuntersteigen, doch schnell verwarf er den Gedanken. Wäre gerade an diesen etwas besonderes gewesen, er hätte es sich gemerkt, nein es musste was ganz anderes sein. Vielleicht war der Eingang auch ganz wo anders in der Akademie? Eine versteckte Treppe, oder ein geheimes Portal? Nein, dass konnte nicht sein. Er hatte Lehrmeister hier hoch gehen sehen und erst Stunden später kehrten sie wieder zurück, der Eingang war hier, dessen war er sich sicher, doch ihm wollte keine Lösung einfallen.
Noch zweimal ging er die ganze Treppe, Stufe für Stufe im Kopf durch, aber ihm fiel nichts auf. Verdammt. Er war schon so nah, hatte die Anomalie durchschaut, er durfte jetzt nicht aufgeben. Er grübelte und grübelte, jederzeit konnte ein Meister die Treppe hochkommen, er wäre verloren, auf dem engen Gang könnte nicht einmal mehr einer seiner Zauber ihn verbergen. Die Lösung tanzte vor seiner Nase rum, dass wusste er, es musste so unoffensichtlich sein, dass es schon wieder offensichtlich war. Er hatte wieder damit angefangen, an seinen Nägeln zu kauen, biss sich ab und zu sacht auf die Finger, in Hoffnung, ihm könnte dadurch wieder eine Idee kommen. Drei seiner Finger bluteten schon recht stark, doch der erlösende Gedanke war ihm noch nicht eingefallen. Immer wieder warf er nervöse Blicke die Treppe hinab, in Angst, jemand könnte kommen. Sicherlich würde man ihn bald vermissen und wahrscheinlich würde man ihn hier zu erst suchen, stehend vor einem für ihn nicht lösbaren Rätsel. Die Frage hatte ihn gefesselt, er musste die Antwort wissen, auch wenn man ihn dann erwischte, sicherlich könnte er sich raus reden, solange er das Turmzimmer noch nicht betreten hatte. Außerdem würde Talgamin...
Talgamin?
Ja! Das brachte ihn der Lösung eines winzigen Schritt näher. Talgamin war für einen Menschen uralt, ja, er musste weit über siebzig sein, oder war er sogar schon achtzig? Archbalduin stellte sich den alten Mann vor: Es gab nur wenige Magier seiner Größe, doch er war ein alter, gebrechlicher Mann, der sich nur sehr langsam bewegte. Er musste an die gewaltigen Baummenschen denken, die in den Wäldern Athel Lorens lebten. Laut einer Legende hatte ein Magier der Lehre des Lebens, die Archbalduin besonders verachtete, sich im Wald versteckt und einen Baummenschen vierhundert Jahre lang beobachtet. Der Gigant hatte in dieser Zeit nur ein paar Kilometer zurückgelegt. Als der Magier den Wald dann verlassen hatte, soll er innerhalb von wenigen Wochen zu einem Greis geworden und gestorben sein.
Talgamin erinnerte ihn an diese Kreaturen. Der Mann war zwar alt, aber überragte ihn um gut eine Handbreite, obwohl er auf seinen Stab gestützt und von seinen schweren, dunklen Roben herunter gezogen immer gebückt ging. Auch Talgamin schien ab und zu Jahre für einen Schritt zu brauchen, und Jahrhunderte, um sich von einem Stuhl zu erheben, dachte Archbalduin spöttisch.
Ja, Talgamin war sehr alt und sicherlich nicht mehr in der Lage so viele Stufen zu steigen, denn seinem Wissen nach, hatte der alte Mann trotz seiner Macht das Fliegen noch nicht erlernt. Nie im Leben würde er diese Treppe bis zum Ende erklimmen können und selbst wenn, er würde Monate brauchen. Und Talgamin war noch nicht mal der Gebrechlichste der Meister. Es war also angebracht, viel weiter unten zu suchen. Von neuem Mut beflügelt, stürzte Archbalduin ein paar Stufen hinab, fing dann aber wieder an, nachzudenken. Er war wieder einen Schritt weiter... aber wo musste er jetzt suchen? Vermutlich müsste er noch vor der tausendsten Stufe suchen... auch die gesunden und kräftigen Lehrmeister konnten nicht ewig Treppen steigen, um in den Turm zu gelangen, wenn sie etwas dringendes zu erledigen hatten. Diesmal ein wenig langsamer begann er wieder mit dem Abstieg. Keine der Stufen hatte irgendwelche Hinweise darauf gehabt, dass bei ihr ein Geheimgang sein könnte und die Wände auch nicht, außer... ja, außer... ja natürlich! Wie konnte er das nur übersehen? Es war in dem Schrecken völlig untergegangen, er hatte die ganze Situation völlig falsch interpretiert.
Er rannte die Treppe hinunter und wäre beinahe einmal gestürzt, was sicherlich den Tod hätte bedeuten können, wenn er lange genug gefallen wäre, doch er ließ sich nicht abschrecken und rannte unaufhaltsam weiter. Erst bei der Stufe vierhundertundzwölf blieb er stehen und gönnte sich eine kurze Atempause. Dann kniete er sich hin und zog den Kadaver der toten Ratte, deren Lebenslicht er auf dem Boden hatte zerspringen lassen aus seinen Gewändern, wo er sie verstaut hatte, damit man sie nicht finden würde und strich ihr durchs Fell. Nach kurzem Suchen fand er ein kleines Symbol, eingraviert auf der Innenseite des rechten, hinteren Beines. Es war ein kleiner, neunzackiger Stern. Normalerweise wurden Homunkuli aber nicht mit neun-, sondern mit Pentagrammen, also fünfzackigen Sternen gekennzeichnet. Triumphierend wandte er sich der Wand zu, bei der die Ratte durch eine Spalte hatte fliehen wollen und besah sie sich genauer. Ein Spalt in der Wand und wegen dieser verfluchten Ratte, war er ihm nicht aufgefallen... dieses verdammte Mistvieh war nur eine Abschreckung und ein Ablenkungsmanöver gewesen, kein Spion. Verdammt, es war so offensichtlich gewesen. Vorsichtig betastete er die Wand, suchte nach einer Art Schalter, einem magischen Schlüssel. Zu seiner Enttäuschung fand er nichts. Die Wand war nur kalter Stein. Da war keine geheime Tür, kein magischer Schlüssel, der irgendwo eine Klappe öffnete. Deprimiert ließ er sich auf die Stufen sinken. Er war auf einer falschen Fährte gewesen... hier war nichts... sein Verstand hatte ihm nur einen Streich gespielt. Er musste wieder neu ansetzen, andere Gedanken mussten ihm einfallen. Er suchte einen neuen Anhaltspunkt und beschloss seine Überlegungen von dem neunzackigen Stern aus zu lenken. Wieso hat der Stern neun Zacken? Warum nicht sechs, sieben, oder acht? Weshalb neun? Fieberhaft dachte er nach, blätterte in Gedanken alle Bücher durch, die er kannte, ging alle nummerierten Regeln durch und rief alle in seinen Kopf, in denen eine Neun vor kam. Was hatte er übersehen? Neun, neun, neun... da musste doch was sein... neun, neun,... neun... Vielleicht neun Stufen weiter oben? Schnell rappelte er sich auf, lief von der Stufe vierhundertzwölf neun nach oben, tastete beide Wände ab, doch er fand nichts. Dann lief er zurück und anschließend neun nach unten, doch auch bei ihr wurde er nicht fündig. Dann versuchte er vier Stufen in beide Richtungen, denn fünf, was ja Norm war, plus vier wären neun, doch auch hier wurde er enttäuscht. Angesäuert und entmutigt kehrte er zur Stufe vierhundertzwölf zurück und setzte sich wieder hin. Nein, so würde das nichts werden... vielleicht war die Neun völlig unerheblich? War sie nur als Verwirrung gedacht? Vielleicht war auch der ganze Stern eine Irreführung? Erneut kaute er an seinen Nägeln, vermied es diesmal aber, sich in die Finger zu beissen, da er bezweifelte, dass das etwas bringen würde. Wenn er noch länger hier sitzen würde, würde er bis zum Fleisch bald alles weggeknabbert haben. Es fing jetzt schon an, weh zu tun.
Er kratzte sich am Kopf und schmierte sich ein wenig Blut in die Haare, so dass sie zu Strähnen verklebten und ihm ins Gesicht klatschten. Gab es vielleicht doch eine Möglichkeit, die Anomalie zu umgehen? Hatte er sich mal wieder geirrt? Nein, in diesem Punkt war er sich doch sicher. Er war sich auch sicher, dass es was mit der Stufe vierhundertzwölf zu tun hatte, er musste nur zuversichtlicher sein, optimistisch denken, dann würde es ihm gewiss auch einfallen. Er fasste neuen Mut und erhob sich. Die Finger auf die Schläfen gepresst dachte er nach, versuchte seine Gedanken zu ordnen, versuchte sich genau an alles zu erinnern. Die Art wie die Ratte sich bewegt hatte... lag hier die Lösung? Möglicherweise...
Er kniete sich nieder und nahm den toten Homukulus wieder in die Hand. Er legte sie auf die kalte Stufe und betrachtete sie eindringlich. Dann schob er sie vorsichtig vorwärts. Sein Gedächtnis war einzigartig... er schaffte es, die Bewegungen des Tieres genau zu rekonstruieren. Die Ratte war von der rechten Wand zur linken gelaufen, hatte einen Haken geschlagen und wäre dabei beinahe auf Stufe vierhundertundelf gefallen. Dann war sie weiter gelaufen... zwei völlig sinnlose Abweichungen... Archbalduin untersuchte die Stellen, fand aber nichts, er dachte weiter nach. Dann war sie schnurstracks auf die Spalte zu gerast und er hatte sie gerade noch am Schwanz erwischt und sie hervor gezogen. In Ordnung, dachte er sich, dass hast du gemacht, jetzt mach es noch besser. Wollte die Ratte vielleicht gar nicht vor ihm fliehen? Hatte sie nur vorgehabt... hatte die Spalte vielleicht ein andere Funktion? Sie war sicher nicht umsonst da, nichts in diesem Turm war sinnlos. Er bedachte die Betonung in seinem Kopf mit einem gewissen Ekel... sinnlos... so wie Freunde und Vergnügen. Er bückte sich und schob seine Hand vorsichtig in die Öffnung hinein. Etwas war dort drinnen, dass war bestimmt mehr als ein Konstruktionsfehler. Er kam nicht weit genug hinein, um irgendetwas zu ertasten. Fluchend betrachtete er den Homunkulus... wieso hatte er ihn nur so überstürzt umgebracht? Mist!
Erneut versuchte er, seine Hand in den Spalt zu zwingen und er kam auch ein kleines Stückchen weiter. Er fragte sich, ob er die Hand jemals wieder aus dem Spalt befreien könnte, doch im Augenblick war ihm das egal.
Ein stechender Schmerz fuhr durch seiner Finger und er riss die Hand ruckartig hinaus, wobei er sich den ganzen Handrücken an der rauen Steinkante aufschürfte. Fiepsend kam ein neuer Homunkulus aus dem Spalt gekrochen und betrachtete ihn mit großen Augen. Beinahe hätte Archbalduin in rasendem Zorn darüber, dass das Mistvieh ihn in den Finger gebissen hatte, schon wieder überstürzt gehandelt und das Wesen umgebracht, aber er besann sich rasch genug eines besseren.
"Was willst du von mir?", fragte er den Homukulus leise, doch das Tier regte sich nicht. Verwundert betrachtete er es: Es war keine Ratte mehr, sondern ein kleiner, grauer Hamster, mit schwarzen Streifen. Noch nie zuvor hatte er einen grauen Hamster gesehen, doch er beschloss nicht weiter darüber nachzudenken, da es viel größere Abnormalitäten als graue Hamster gab. Er kam sich nahezu ausgelacht vor... er war an der Akademie der Schatten, in einem Gebäude des Schreckens und was man ihm als Rätsel vorsetzte war ein verdammter, grauer Hamster.
"Sprich mit mir.", sagte er zu dem Tier, "Was willst du von mir?" Er hatte den Stern sofort gesehen, weil er dem Homunkulus auf der Stirn prangte. Er hatte vier Zacken. Offensichtlich hatte Archbalduin doch richtig gedacht, als er den Stern als sinnlos - schon wieder dieses Wort... sinnlos - er schauderte kurz, ehe er den Gedanken zu ende führte - abgetan hatte. Der Hamster sah ihn aus großen, schwarzen Augen an und regte sich nicht, versuchte auch nicht zu fliehen... er wartete auf etwas! Archbalduin beschloss, ein paar Sachen auszuprobieren. Er versuchte das Tier zu berühren, aber es wich einfach aus, allerdings ohne irgendwelche überflüssigen Bewegungen zu machen. Ein Zeichen... es wartet auf ein Zeichen, dass ich berechtigt bin, das Turmzimmer zu betreten, schoss es ihm durch den Kopf. Er hoffte, dass das diesmal tatsächlich die Lösung war und er griff in seine schwarze, lederne Gürteltasche und zog eine Phiole raus. Vorsichtig drehte er den gläsernen Verschluss ab, nahm sich eine Pinzette und schob sie in die zarte Flasche. Behutsam zog er ein langes silbernes Haar aus ihr heraus... er hatte gewusst, dass die Strähne aus Talgamins Bart, die er heimlich aus dem Kamm des Mächtigen gezogen hatte, ihm irgendwann nützlich sein konnte. In Hoffnung, dass der Homunkulus darauf reagieren würde, reichte er ihm das einzelne Haar.
Tatsächlich wurde das Tier plötzlich aktiv. Es beschnupperte das Haar, stach sich das Ende fast ins Auge und hielt es dann in seinen Pfötchen und...
"Starr mich nicht so an!", fuhr er das kleine Geschöpf an, dass sich aber gänzlich unbeeindruckt zeigte und ihn wieder mit diesem erwartungsvollen Blick ansah. Archbalduin unterdrückte wildere Flüche und brummelte irgendetwas unverständliches in seinen kurzen, braunen Bart. Trotzig blickte er den Homunkulus in die Augen, doch er musste vor dem kleinen Tier den Blick abwenden und starrte schmollend an die Wand. Mental geschlagen von einem Hamster, von einem grauen Hamster, klagte er stumm. Ich will doch nur den unendlichen Schatz an Wissen, der in dem Turm lagert, dass wäre eine gerechte Belohnung für all' die Mühen, dachte er sich. Belohnung! Ja! Das war es! Diesmal ganz sicher! Er hatte sich als berechtigt erwiesen, jetzt wollte das Tier nur noch einen Wegzoll haben, dass war nicht selten bei magischen Kreaturen. Nun wurde ihm auch die Bedeutung des Sternes klar. Er blickte den Hamster freundlich lächelnd an und tippte ihm vorsichtig auf die Stirn. Kurz zuckte das Tier gepeinigt zusammen, rollte sich ein und verharrte kurz so, ehe es sich wieder aufrichtete und ihn nun ohne Erwartungen ansah. Auf seiner Stirn prangte nun ein Stern mit fünf Zacken. Triumphierend lachte Archbalduin auf und schämte sich dennoch gleichzeitig... dieses Rätsel hätte jemand lösen können, der die Akademie erst seit einem Jahr besuchte. Das war Basiswissen... Wegzoll... sogar die meisten Dorftrottel wussten das. Der Hamster hüpfte auf der Stufe vierhundertzwölf hin und her. Er glaubte zu wissen, was das graue Tier ihm sagen wollte. Er stellte sich mit beiden Füßen auf die Stufe und nun war es an ihm, den Homunkulus erwartungsvoll anzusehen. Was konnte nun passieren? Er hatte nicht den geringsten Schimmer.
"Also?", fragte er?
Es kribbelte nur ganz kurz, es gab kein großes magisches Feuerwerk, wie er es erwartet hatte. Es öffnete sich auch keine Tür, keine Klappe, kein Portal. Er hatte überhaupt nichts gespürt, außer eben diesem kurzen Kitzeln. Eine Sekunde nachdem er seine Frage gestellt hatte, konnte der Hamster ihm problemlos in die Augen sehen. Ein wenig verblüfft über den Umstand, dass er nun so klein war, folgte er dem Hamster und verschwand in der schmalen Spalte.