Kapitel II
Die Bestie
Die Salve der Musketiere schlug dicht neben der Bestie ein, aber sie wurde nicht getroffen. Mit einem unmenschlichen Brüllen verhöhnte sie ihre Verfolger, warf ihre schreiende Beute auf das Dach eines kleinen Hauses und sprang selbst hinterher. Kurz zeichnete sich ihre Silhouette schwarz vor dem strahlend weißen Mond ab, ehe sie wieder in der Dunkelheit verschwand. Es schien, als wäre Altdorf ihr Revier und nicht das der Menschen.
„Sie versucht über die Dächer zu entkommen!“, ertönte von irgendwo eine Stimme. „Nun haltet sie schon auf!“ Die Soldaten der Stadtwachen luden ihre Waffen nach, während einige Pistoliere durch eine kleinere Seitengasse versuchten dem Ungeheuer den Weg abzuschneiden. Sie feuerten ein paar Schüsse auf das Wesen ab, doch verfehlten sie es und die Kugeln donnerten an ihr vorbei in die steinerne Wand eines kleinen Turms. Behände kletterte die Bestie über die Dächer, die junge Frau die sie unter ihrer linken Klaue geklemmt trug schrie aus vollem Halse um Hilfe.
„Schießt nicht so unbesonnen, ihr trefft sonst noch das Mädchen!“, rief einer der Soldaten. Die Musketiere hatten ihre Büchsen nachgeladen und verfolgten jetzt wieder den Schatten, der einige hundert Fuß vor ihnen über die Häuser sprang, doch die Kreatur war viel zu schnell für die Männer am Boden. „Klettert auch auf die Gebäude!“, befahl ein junger Offizier, „und versucht sie einzukreisen, orientiert euch an den Schreien der Frau!“
Irgendwo weit entfernt vernahmen sie einen Schrei der Bestie – war sie getroffen worden? Eilig bemühte sich ein Teil der Soldaten die Hausdächer zu erklimmen, während eine andere Gruppe die Verfolgung auf der Straße fortsetzte. „Los, macht schon, holt sie euch!“
Doch die Menschen bewegten sich äußerst ungeschickt auf den rutschigen Ziegeln der Dächer und kamen nur sehr langsam voran. Wieder peitschten ein paar Schüsse durch die Luft, doch auch diesmal folgten ihnen keine triumphierenden Jubelrufe.
Gunther Hartfuß hatte die Bestie aus den Augen verloren. Er hatte ohnehin kaum einen Nerv dafür, noch Ausschau nach ihr zu halten, da er sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, nicht abzurutschen und vom Dach zu fallen. Die Ziegel unter ihm klapperten bedrohlich und schienen ihn mit allen Mitteln zum Sturz bewegen zu wollen. Ein paar besonders garstige von ihnen lösten sich unter seinen Füßen, donnerten das Dach hinunter und zerschellten auf dem rauen Pflaster der Straße. Gunther selbst konnte sich in letzter Sekunde an dem Giebel fest krallen und verhinderte dadurch seinen Sturz, aber er hatte seine Muskete verloren - sie lag unten am Boden, bei den zerbrochenen Ziegeln, sah aber unbeschädigt aus. Fluchend zog er sich hoch und versuchte wieder einen einigermaßen festen Stand zu bekommen.
„Was machst du da? Komm endlich!“, rief ihn einer seiner Kameraden, doch Gunther wies ihn mit einer Handbewegung an, weiter zu laufen: „Ich bin gleich da, geht ihr schon weiter!“
„In Ordnung, aber beeil' dich, ich glaube wir haben sie verloren!“
Vorsichtig und auf allen Vieren begann Gunther das Dach hinunter zu kriechen. Als er die Kante erreichte, versuchte er sich hinunter zu lassen. Er umklammerte die Regenrinne und schob seine Füße langsam über die Brüstung. Ja! Er schaffte es! Überschwängliche Freude erfüllte ihn und ein breites Grinsen zierte sein bärtiges Gesicht. „Ja, ich habs noch drauf!“
Ein lautes Knacken verwandelte seine Freude in Angst und sein Grinsen wich einem ungläubigen, verblüfftem Gesicht! Krachend brach die Regenrinne entzwei und Gunther stürzte mehr als zwei Manneslängen tief, ehe er unsanft auf der, seinem Geschmack nach viel zu harten Straße aufschlug. Ein paar endlos erscheinende Augenblicke blieb er reglos liegen, dann gab er ein tiefes, markerschütterndes Stöhnen von sich. Sein Rücken schmerzte schrecklich und viele kleine bunte Sternchen tanzten vor seinen blauen Augen. Er versuchte sie zu zählen, aber es waren schlichtweg zu viele. „Verdammt...“, presste er zwischen seinen Lippen hervor und blinzelte ein paar mal, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Allmählich verschwanden die Sterne, dafür begannen seine Schläfen schmerzhaft zu pochen. „Grundgütiger, sowas passiert aber auch nur mir.“, er nahm den Helm ab und streckte sich, versuchte den Schmerz abzustreifen und die Lähmung, die der Schreck über ihn gebracht hatte, von seinen Gliedern. Sein schulterlanges, blond gelocktes Haar wirbelte durch die Luft und legte sich füllig über seinen Nacken. Das laute Knacken in seinem Rückgrat stimmte ihn besorgt und er setzte eine unbehagliche Mine auf. Er zog sich die, mit Eisenstreifen beschlagenen Lederhandschuhe aus, und schüttelte seine von kaltem Schweiß feuchten Hände in der kühlen Nachtluft. Dann kratzte er sich seinen vollen, krausen Bart, der über sein ganzes Gesicht wucherte und damit unschöne Narben verbarg. Der spitze Kinnbart, den er zur Zeit der großen Schlacht getragen hatte, war verschwunden. Sein Schwager allerdings trug ihn noch. Kurz schweiften seine Gedanken ab: Es war ein Wunder, dass er und sein Schwager den Kampf gegen den Wolfsmenschen überlebt hatten... fast wären sie ihm unterlegen gewesen und gefressen worden, aber irgendetwas hatte sie gerettet. Man hatte ihnen gesagt, dass Kasimir von Carstein die Bestie erschlagen hätte, aber Gunther glaubte nicht so wirklich an die Geschichte, vom Monster das das andere Monster tötete. Immerhin war der Vampir kurz darauf in einem gnadenlosen Gefecht von Walther Groll besiegt und gerichtet worden. Eigentlich zählte für ihn auch nur, dass er noch am Leben war, zusammen mit seinem Schwager. Dieser hatte in der Schlacht allerdings sein linkes Bein verloren... sie hatten es ihm im Lazarett amputiert. Gunther hätte niemals gedacht, dass er diesen Eingriff in seinem schlechten Zustand überleben würde... die meisten verstarben bei einer Amputation sogar, wenn sie zuvor in einer halbwegs stabilen Verfassung waren. Aber Gunther hatte zu Sigmar gebetet, und der große, gnädige Gott mit dem Hammer hatte seine Bitten an diesem Tag gleich zum zweiten Mal erhört. Seitdem besuchte er wenigstens einmal die Woche den Sigmaritentempel um zu Sigmar zu beten... und da sagt man immer Menschen könnten sich nicht ändern, dachte Gunther. Früher hatte er wenig mehr als Verachtung für die Sigmariten übrig... hoffentlich würde Sigmar ihm das verzeihen, wenn er, lieber später als früher einmal um Erlaubnis bitten müsste in seine Halle einkehren zu dürfen.
Als Gunther damals nach Hause zurückkehrte war sein Kind gerade zwei Monate alt und wie es seine Frau prophezeit hatte, war es ein kleines Mädchen geworden. Gunther war an diesem Tag überglücklich gewesen und...
„Wir haben die Bestie verloren, findet sie!“
Er wurde jäh aus einen Gedanken gerissen. Für einen kurzen Moment war er tatsächlich wie weggetreten gewesen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, wenigstens waren die Schmerzen verschwunden.
„Sie ist fort, sucht auch in der Kanalisation!“
Mist! Gunther stieß ein paar herbe Flüche aus und schmiss seinen Helm ärgerlich auf den Boden. Man hatte diese Bestie bis jetzt nie mehr gefunden, nachdem man ihre Spur verloren hatte. Man bekam sie erst wieder zu Gesicht, wenn sie sich von selbst zeigte und das konnte sonst wann sein und wo sie auftauchen würde, wusste man auch nicht. Es war das siebte Mädchen in vier Wochen und nur fünf mal hatte man die Bestie überhaupt gesehen... und kein einziges mal hatte man sie auch nur annähernd erwischt. Zornig betrachtete er seinen Helm, wie er über das Pflaster eierte und bis zu den herab gestürzten Ziegeln rollte. Seine Muskete! Die hatte er fast völlig vergessen. Mit schnellen Schritten legte Gunther die paar Meter zu der Waffe zurück, bückte sich und hob sie auf. Als er in die Knie ging machte sich sein Rücken erneut schmerzhaft bemerkbar und er sog scharf die Luft ein. Nachdem er ein Weile auf den Knien verharrt hatte, richtete er sich sacht wieder auf und betrachtete die Schusswaffe... sie schien unbeschädigt zu sein, aber er wollte jetzt nicht grundlos einen Schuss abgeben, nur um zu testen ob sie noch funktionierte.
Er warf sich den, am Lauf befestigten Lederriemen über die Schulter, streifte sich seine Handschuhe wieder über und lupfte den Helm mit seiner Fußspitze hoch. Geschickt fing er ihn auf und kratzte sich verlegen am Kopf, als er die große Delle im Metall bemerkte, die wohl entstanden war, als er ihn eben während seiner gefühlsbedingten Entgleisung auf den Boden geworfen hatte. Prüfend schob er ihn sich über den Kopf und verbarg seine dichte, blonde Mähne wieder unter ihm. Wunderbar, passt noch!, dachte er sich. Er seufzte noch einmal leise, rieb sich die Nase und wollte sich gerade auf den Weg machen, als er plötzlich zusammen zuckte. Was war das?
Wie versteinert blieb er stehen, hielt die Luft an und lauschte. Er glaubte etwas gehört zu haben, er war sich nicht sicher. Langsam verkrampften sich seine Muskeln und er würde gleich wieder Luft holen müssen, aber... DA! Da war es schon wieder! Ein Art dumpfes Winseln... Hinter ihm! Ruckartig zog er die Muskete von seinem Rücken und wirbelte herum, was auch immer da...
Er erstarrte, seine Augen weiteten sich furchtsam und seine Hände wurden feucht. Die Bestie!
Sie stand im Schatten unter dem Vordach eines kleinen Hauses und verbarg sich in der Finsternis. Beinahe hätte Gunther sie nicht bemerkt, doch ihre Augen verrieten sie. Wie rote Kohlen glühten sie in ihren Höhlen und starrten Gunther voller Zorn an. Zwischen seinen ellenlangen Klauen hielt es das Mädchen, dass sich weinend in seinem erbarmungslosen Griff wand. Die Bestie hatte ihren Mund mit einer Kralle bedeckt, so dass ihre verzweifelten Schreie zu einem kaum hörbaren Winseln erstickt wurden. Ein tiefes, finsteres Grollen schlug ihm entgegen und ließ ihn einen Schritt zurück taumeln, wobei er seinen Blick aber nicht von der Bestie wandte.
Die Kreatur folgte ihm. Langsam trat sie aus den Schatten heraus und verließ ihr Versteck, das Mädchen trug sie ungerührt mit sich, ohne ihren Griff zu lockern. Das Wesen drehte den Kopf von einer Seite auf die andere, offenbar musterte es Gunther interessiert, es zog die Luft ein, schnupperte. Er tat es ihr gleich und betrachtete sie genauer.
Die Bestie hatte einen unförmigen Kopf, die Stirn war flach, der Unterkiefer hingegen außergewöhnlich lang und die Ohren waren leicht angespitzt und flach an den kleinen Hinterkopf angelegt. Die Nase des Ungetüms war platt und breit, sah aus, als wäre sie mehrfach gebrochen und als es ein drohendes Knurren gegen Gunther ausstieß entblößte es viele kleine, nadelartige Zähne, die in schwarzem, fauligem Zahnfleisch steckten. Der Schädel saß fast direkt auf den Schultern, der breite Hals war ziemlich kurz, was allerdings durch die gebückte Gangart der Kreatur unterstützt wurde. Gunther keuchte... die Kreatur hatte wahrlich den Nacken von einem Stier! Blasse, blau-graue Haut spannte sich über ihre gewaltigen Muskeln - sie war so dünn, dass sie aussähe als wäre sie aus trockenem Pergament und unter ihr konnte man viele dicke, schwarze Adern pulsieren sehen. Am Auffälligsten allerdings, waren die gewaltigen Klauen, die der Bestie nicht nur aus den Pranken wuchsen, sondern auch aus dem Nacken, am Rücken und aus den Ellenbogen.
Gunther hatte das Wesen so eingehend gemustert, dass er nicht bemerkt hatte, wie nahe es ihm schon gekommen war. Als er feststellte, dass nur noch ungefähr eine Manneslänge zwischen ihm und dem Monster war, das gute drei Köpfe größer war als er selbst, erschrak er entsetzlich und gab versehentlich den geladenen Schuss aus seiner Muskete ab. Das Geschoss traf das Ungetüm zwar nicht, sondern raste vor ihm in den Boden, aber dennoch war es anscheinend nicht allzu erfreut darüber. Es stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und stinkender Schleim schlug Gunther ins Gesicht, ließ ihn rückwärts stolpern und stürzen. Panisch krabbelte er rücklings vor der Bestie davon, aber sie folgte ihm mit großen Schritten, unheilvoll knurrend. Das Mädchen wand sich verzweifelt in ihrer Klaue, aber sie schaffte es nicht, sich zu befreien, die Kreatur musste so stark wie ein Pferd sein. Ängstlich riss sie die Augen auf, sie konnte nichts tun.
Gunther selbst konnte auch nichts tun, er dachte nicht einmal daran, nach Hilfe zu rufen, nein, er beobachtete nur wie sich das Ungetüm vor ihm aufbaute und seine freie Klaue zu einem Angriff hob. Die Bestie stieß ein entsetzliches Kreischen aus, das Mädchen fiel in Ohnmacht und hing leblos und schlaff in ihrer Kralle.
Plötzlich schlug ein Schuss vor ihren Füßen ein und ließ sie von ihm ablassen! Rufe ertönten, Hufe donnerten... die Pistoliere! Sicher waren sie dem Geräusch seiner Waffe gefolgt!
Ein weiterer Schuss traf die Bestie in der Flanke und entlockte ihr so ein schmerzerfülltes Jaulen. Das Mädchen allerdings, ließ sie nicht los! Sie stieß ein zorniges Fauchen gegen ihre Angreifer aus und brachte sich dann mit einem Satz aus Gunthers Sichtfeld. Die Pistoliere galoppierten an ihm vorbei und nahmen die Verfolgung auf.
Lange starrte er noch auf den Fleck, an dem eben das Monstrum stand, das ihm sein Leben hatte stehlen wollen. Er fühlte sich auf sehr unschöne weise an den Wolfsmenschen erinnert, gegen den er einst hatte kämpfen müssen. So etwas passiert einem Menschen doch nicht zweimal im Leben! Er seufzte und rang sich ein müdes Lächeln auf das Gesicht. Nein, keinen außer ihm anscheinend... denn es war passiert! „Sigmar, was hast du bloß für einen Plan mit mir?“, fragte er, den Blick in den Himmel gerichtet. Eine Weile noch blieb er reglos sitzen, dann erhob er sich schließlich und folgte der Richtung, in der die Pistoliere verschwunden waren.
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nächster Teil dann morgen!