Wie versprochen...
Kapitel XII
Odinoki
Ein schmale Rauchsäule stieg zwischen den zwei Holzstücken auf, die von den Händen des Mädchens kräftig aneinander gerieben wurden und kräuselte sich als grauer Faden durch die kühle Abendluft. Der Geruch der enstehenden Glut stieg ihr in die Nase. In dem trockenen Gras, das sie ausgerissen hatte, begann es zu glimmen. Nun legte sie ihre Hände um die kleine Feuerstelle und blies ein paar mal kräftig hinein, nährte den keimenden Brand. Bereits jetzt liebkoste die Wärme ihre steifen Finger. In kleinen Wolken stand ihr Atem vor ihren gesprungenen Lippen und verlieh der Kälte einen malerischen Ausdruck. Die Nacht würde eisig werden. Und es dämmerte bereits. Die Sonne zog sich zurück und hinterließ nur noch einen roten Glanz irgendwo hinter den hohen Bergen am Horizont. Sie musste sich beeilen!
Schließlich, nach einiger Zeit und weiterem Reiben kämpfte sich eine kleine Flamme aus den verdorrten Halmen und begann gierig nach ihnen zu lecken. Nach und nach fraß sie an ihnen, entzündete sie mit ihrer züngelnden Gier. Die Flamme wuchs.
Das Mädchen legte nun ein paar tote, abgebrochene Äste in das Feuer und beobachtete, wie es nach dem leblosen Holz griff, immer und immer größer wurde. Nach einer Weile würde sie ein paar dickere Scheite hinein legen, damit das Brennen reiche Nahrung hatte. Welche, von der es länger zehren konnte. Dann musste sie nur noch darauf achten, dass es über Nacht nicht erlosch und hin und wieder trockenes Holz nachlegen. Sie fürchtete sich nicht vor der Finsternis, die das Verschwinden der Sonne brachte, nein, im Gegenteil, sie liebte sie. Jedes mal wenn die Dunkelheit sie umfing fühlte sie sich wohl. Geliebt. So, als würde der Abend seine väterlichen Arme zärtlich um ihre Schultern legen. Im Dunkeln war sie zu Hause. Sie liebte es.
Doch die Nacht brachte auch die Kälte, ein gnadenloser Gegner, dem sie in ihren zerfetzten, dreckigen Lumpen nicht gewachsen war. Ein Gegner, der sich nur mit einem wärmenden Feuer bekämpfen ließ. Ihr war klar, dass sie ohne solch' ein Feuer in der Nacht bitterlich frieren, vielleicht sogar erfrieren würde. Außerdem half der Rauch gegen wilde Tiere, vertrieb sie mit seinem gefährlichen Gestank, mit seiner Drohung von Asche und Tod. Sie rieb sich die Hände, blies in sie hinein, wie zuvor bereits in die Glut und hielt sie dann so lange dicht an die tanzenden Flammen, dass die Hitze unerträglich wurde und ihre Finger zu schmerzen begann. Sie setzte sich im Schneidersitz vor das Feuer, legte das erste größere Stück Holz hinein und starrte verloren in das orange Licht. Die ersten Flammenkronen loderten mit blauem Glanz auf und haschten vorsichtig nach dem dicken, abgestorbenen Ast, betasteten ihn prüfend, ehe sie ihn mit aller Gewalt einfingen. Wohlige Wärme überzog den, vor Schmutz starrenden Körper des Mädchens.
Bis zu ihren Knien hinauf trug sie Stiefel aus getrocknetem Schlamm über ihren nackten Füßen und auf ihren Oberschenkeln waren Grasflecken und verschmiertes Harz. Ihre Beine waren voller Prellungen, voller blauen und schwarzen Flecken und überzogen mit endlosen Kratzern, flachen Schnittwunden und Stichen. Sie war gelaufen. Gelaufen durch den Wald. Durch Unterholz und über Steine. Durch reißende und stechende Dornensträucher, bösartige Ranken. Sie war gelaufen. Viele, viele Tage lang, so schien es ihr wenigstens. In ihren schwarzen, verfilzten Haaren klebte noch der Ruß der vergangenen Feuer, der vergangenen Nächte. Es waren so viele gewesen.
Sie war gelaufen. Gelaufen und gelaufen. Planlos und ohne Ziel. Einfach nur gelaufen. Wohin? Das wusste sie nicht.
Sie wusste überhaupt nichts mehr. Ihr Kopf war einfach leer, so als hätte man mit einem Lappen alles weggewischt was vor dem Tag geschehen war, an dem sie aufgewacht war, allein gelassen in hüfthohem, feuchtem Gras. Allein gelassen in einem dunklen Wald mit knorrigen, alten Bäumen, die zornig auf sie herabgestarrt, im Wind böse Dinge geflüstert hatten. Allein gelassen, ganz auf sich selbst gestellt. Sie wusste nichts mehr. Nicht einmal mehr ihren Namen. Sie nannte sich selbst „Odinoki“. Einsam. In ihrer Sprache. Offensichtlich beherrschte sie zwei Sprachen, das war ihr aufgefallen, denn die wirren Gedanken in ihrem Kopf klangen mal so und mal so, bedeuteten aber immer das gleiche und sie verstand es. Geh fort von hier.
Anfangs hatte sie Angst gehabt. Sich gefürchtet. Alleine in der Wildnis, ohne das Wissen wer oder was sie eigentlich genau war. Doch dann hatte sie angefangen diese Worte zu hören und sie trieben sie fort von etwas. Von was, das wusste sie nicht genau, sie wusste nur, dass sie fort musste. Es gab ihr eine Richtung und der folgte sie. Sie war einfach nur gelaufen. Tagelang.
Geh fort von hier.
Vor ein paar Feuern dann, waren die schwarzen Schatten des Gebirges am Horizont aufgetaucht. Sie wusste was Berge waren, auch wenn sie noch nie so große gesehen hatte und fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, sollte sie sie je erreichen. Sie gehorchte der Stimme zwar, doch das gefiel ihr nicht. Es löste eine Leere in ihr aus. Eine Kälte, die kein Feuer vertreiben konnte, aber es war wie ein Zwang und sie musste einfach laufen. Einfach nur laufen. Immer und immer weiter. Einmal hatte sie ihr Spiegelbild gesehen, verzerrt von den fließenden Wassern eines Flusses und sie hatte festgestellt, dass sie zu denen gehörte, die sich Mensch nannten. Sie erinnerte sich dunkel an die Menschen. Es waren keine guten Erinnerungen. Sie hatte schon vorher die Ahnung gehabt einer zu sein, da ihr kein Fell auf Armen oder Beinen wuchs, aber erst nach dem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, war sie sich wirklich sicher gewesen.
Ihr Magen knurrte. Sie hatte Hunger, doch sie aß eigentlich nur sehr selten was. Die Stimme sagte ihr nicht, dass sie etwas essen sollte, also tat sie es auch nicht, es sei denn sie hatte solange nichts zu sich genommen, dass ihr schlecht wurde oder sie vor Entkräftung fast zusammenbrach. Wenn, dann nahm sie Beeren von den Sträuchern oder dunkle Pilze, nicht die bunten, denn aus einem unbestimmten Grund stellten sich ihr bei ihrem Anblick vor Furcht die Nackenhaare auf. Manchmal fand sie auch kleine, harte Nüsse an Bäumen, die man ebenfalls essen konnte.
Menschen, Berge, Beeren, Pilze, Nüsse, ja, allein die Tatsache, dass sie wusste wie man ein Feuer schürte, all' das war Wissen, von dem sie nicht wusste woher es kam. Es war fast, als würde es aus ihr entspringen, als wäre es ihre eigene Erinnerung, als hätte sie all' das irgendwann wirklich einmal gewusst. Aber so fühlte es sich nicht an. Es war, als käme es von einer anderen Person, die ihr die Dinge zuflüsterte, die sie wissen musste. Denn sie selbst wusste nichts mehr. Es kam nicht von ihr, nicht aus ihr. Aus ihr kam nur eines.
Geh fort von hier.
Versonnen beobachtete sie das Spiel des Feuers und legte einen weiteren dicken Ast hinein, damit die Flammen nicht erloschen. Funken stoben auf und die Asche der verbrannten Hölzer wirbelte ein wenig umher. Ruß legte sich auf ihren knochigen, dürren Arm. Mit einem schmalen Stock stocherte sie gelangweilt in der Glut. Nachts konnte sie nicht laufen. Es war zu kalt und zu dunkel. Auch wenn sie die alles einhüllende Finsternis liebte, so konnte sie nicht sehen wo sie hin trat und stolperte oft, schlug sich Wunden an den Beinen und lief am nächsten Tag nur langsamer. Sie würde mehr Zeit verlieren, als sie gewinnen könnte, würde sie nachts laufen. Außerdem wurde sie irgendwann immer müde. Ihr menschlicher Körper wollte nicht so, wie sie wollte. Es war wie mit dem Hunger. Nach einer bestimmten Zahl an Schritten, die sie nicht mehr zu zählen vermochte, schlich sich die Schwäche in ihr Fleisch. Erschöpfung ließ sie matt werden und immer, immer langsamer, wenn sie nicht rastete. Wohl oder übel, ob sie wollte oder nicht: sie musste die Nacht ruhen und am Feuer verbringen. Es ging nicht anders.
Sie würde einfach hier sitzen, in die Flammen starren, die Wärme auf ihren Gliedern genießen und früher oder später einschlafen. Irgendwann in der Nacht würde die Kälte sie wecken, dann musste sie schnell Holz nachlegen, das Feuer neu schüren und würde wieder einschlafen. Sie würde so lange schlafen, bis die Sonne ihre Strahlen über die Spitzen des Gebirges sandte und das Land in helles Tageslicht tauchte. Licht, das in den Augen schmerzte, wenn man sie nicht zusammen kniff. Dann würde sie erwachen und einfach los laufen. So und nicht anders tat sie es immer.
Lange saß sie regungslos vor dem flackernden Feuer, starrte hinein und wartete auf den Schlaf. Er kam mit leisen Schritten, ließ erst ihre Lider schwerer werden, dann ihre Glieder und übermannte sie schließlich. Langsam sackte ihr Kinn auf ihre Brust und zunehmende Unschärfe verschleierte ihre Gedanken und die leise, unermüdliche Flüsterstimme.
Geh fort von hier.
Dann war sie eingeschlafen.
...
Odinoki schreckte auf. Nicht die Kälte hatte sie wie üblich geweckt, denn die Flammen flatterten noch munter und wärmend durch die Schwärze der Nacht. Etwas anderes hatte sie aus dem Schlaf fahren lassen. Es war ein leises Knistern und Knacken, doch es kam nicht aus dem Feuer, so wie sonst, nein, es war hinter ihr erklungen. Erschrocken umklammerte sie ihre Knie mit den Armen und biss sich ängstlich in den Daumen. Sicherlich war es nur ein harmloses Tier, wie ein Vogel oder ein Wiesel, eine Feldmaus oder vielleicht ein Dachs. Sicherlich war es ungefährlich und die Laute würden gleich aufhören, würden enden.
Das Knacken des Unterholzes verebbte leider nicht, im Gegenteil, es schien lauter zu werden, sich ihr zu nähern. Unsicher wanderten ihre Augen von rechts nach links. Sie wusste nicht was sie tun sollte.
Geh fort von hier.
Doch sie wagte es nicht sich zu bewegen, wagte es nicht das schützende Feuer zu verlassen. Die Geräusche wurden lauter und lauter, etwas großes bewegte sich unvorsichtig und lärmend auf sie zu. Was auch immer es war, es war größer als ein Vogel, ein Wiesel, eine Feldmaus oder ein Dachs und es fürchtete sich bestimmt nicht vor Feuer. Und bestimmt auch nicht vor ihr. Voller Angst schloss sie die Augen, presste sie zusammen und verbarg den Kopf zwischen Armen und Knien, so als könnte sie das beschützen. In ihrem Kopf schwollen die Laute, das Knacken und das Knistern zu einem gewaltigen, lähmenden Orkan an und drangen in jeden ihrer Sinne. Füllten sie mit Furcht aus. Angst. Dann endete es. Es war still.
Verwundert hob Odinoki den Kopf. Ihr war nichts geschehen. Sie öffnete ihre Augen und erschrak geräuschlos, umklammerte ihre Knie mit neuer Kraft. Vor ihr stand ein anderer Mensch. Ein Mann, so glaubte sie. Er stand einfach da, direkt vor ihr und betrachtete sie. Sie sah ihn an. Dunkelblonde Haare hingen ihm in dicken Strähnen fast bis auf die Schultern, bebten sachte im Wind, als bewegten sie sich zusammen mit dem zitternden Schein des Feuers, der seine blasse Haut erleuchtete, tiefe Schatten in sein Gesicht malte und seinen Augen ein glühendes Rot verlieh. Glühende, rote Augen. Eine Erinnerung zuckte in ihrem Geist empor, flackerte gleich einer Stichflamme kurz auf und verließ sie dann wieder. Sie hatte ein Bild von diesen Augen in ihrem Kopf, aber sie konnte es nicht einordnen. Rote, glühende Augen. In diesen Augen, die sie eindringlich betrachteten, lag etwas, das sie zunächst nicht einsortieren konnte. Lange suchte sie in ihrem wirren Geist nach einem Wort, das diesen Blick zu beschreiben vermochte. Sie fand es. Zabota. Sorge.
Er war in einfache Kleider aus Leinen gehüllt, so wie auch sie selbst, doch nicht so zerschunden und zerrissen. Dafür aber genauso dreckig, wenn nicht noch schlimmer. Dicker Staub steckte zwischen den Fasern seiner Kleidung, hüllte ihn ein wie eine Wolke, ein Nebel der ihn verfolgte. An seinen Füßen saßen echte Stiefel und keine aus Schlamm, auch trug er im Gegensatz zu ihr eine Hose aus rauer Tierhaut – Kozha- Leder - und nicht bloß ein Hemd.
Sie war sich unschlüssig was sie tun sollte. Was wollte er von ihr? Sie fressen? Warum hatte er es dann noch nicht getan? Sein Blick verwirrte sie. Es sah nicht aus, als wolle er ihr etwas antun. Sie versuchte ungefährlich auszusehen.
„Wer bist du?“, erklang seine Stimme. Seine Worte hallten unheimlich lebendig durch ihren Verstand. So viel schärfer und echter als die Stimme, die sonst zu ihr flüsterte. Sie zuckte zusammen. Die Worte rollten laut und kraftvoll aus seinem Hals und zunächst fühlten sie sich schmerzhaft in ihren Ohren an, doch bald hinterließen sie einen warmen, wohligen Nachklang. Sie wünschte sich, er würde nochmal etwas sagen. Auch wenn sie verstanden hatte was er gesagt hatte, denn es klang wie die eine Sprache aus ihren Gedanken, antwortete sie ihm nicht. Sie wusste nicht, was er hören wollte. Aus großen Augen starrte sie ihn an.
Zabota füllte sein Gesicht aus und er ging in die Knie, sah ihr genau in die Augen. Vielleicht hatte sie ihn erschreckt, weil sie nichts gesagt hatte? Er wiederholte die Worte und fügte ihnen neue hinzu:
„Wer bist du?“
„Wie heißt du?“
„Bist du ganz alleine?“
„Geht es dir gut?“
Wärmer als das Feuer durchfluteten seine Worte ihren Körper, heiß drang die Echtheit seiner sanften Stimme in ihren Geist ein. Es war so gut sie zu hören. Sie war so echt, fast als könnte sie sie greifen wie ein Stück Holz und sie den Flammen übergeben. Behutsam berührte eine seiner großen Hände ihre eingefallene Wange und schob ihr eine verfilzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Zabota. Das Gefühl seiner eiskalten Haut ließ sie zurück zucken, doch erneut belebte sie die Wirklichkeit seiner Hand. Es war, als wachte sie endlich auf. Als erwachte sie aus einem langen, tiefen Schlaf. Er zog seine große, kalte Hand zurück, doch eigentlich wollte sie, dass er sie erneut berührte.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“, sagte er zu ihr und seine Stimme brandete gleich einer sommerlichen Woge gegen sie. Schnell ergriff sie seine Hand. Sie wusste nicht, warum sie es getan hatte, doch sie wollte sie unbedingt fühlen. Seine kalte Haut. Diese eisige Wirklichkeit. Verwunderung trat in seinen Blick. Zabota blieb dennoch.
Er war unglaublich. Fasznierend. Mit ihren Fingern ertastete sie seine, hielt den Blick fest in seinen roten Augen verankert. Leben sprudelte heiß durch alle ihre Glieder, die Mattigkeit und die Leere der letzten Tage fielen von ihr ab und es war ihr, als fühlte sie zum ersten mal tatsächlich ihren Leib. Der Hunger wurde so übermächtig, dass ihr speiübel wurde, doch es war ein herrliches Gefühl. Ein wirkliches Gefühl! Die Stiche und Kratzer auf ihren Beinen begannen zu schmerzen und das Pochen ihrer Füße meldete sich anklagend. Sie war am Leben! Lebendig! Die Kälte die seit ihrem Erwachen im Gras in ihren Knochen gehaust hatte verschwand und wich einer unglaublich klaren Wahrheit. Einer Wirklichkeit! Einer Echtheit! Einer Wärme. Sie strahlte und lächelte ihn breit an. Zwar wirkte er immer noch verwirrt, doch er lächelte vorsichtig zurück. Sie knetete seine Finger, spielte wie wild mit ihnen herum und genoß ihre Greifbarkeit, ihre Form und das Gefühl, das sie in ihr auslösten. Die Eindrücke drohten sie zu erschlagen. Die Schmerzen ihrer Beine und Füße, seine Stimme, sein Blick, das unangenehme Jucken durch den vielen Schlamm auf ihrer Haut. Seine eiskalten, weißen Hände. Sie hätte Stunden so da sitzen können. Irgendwann zog er seinen Arm zurück, doch als darauf hin ein unglücklicher Ausdruck in ihr Gesicht trat, umfasste er ihre Hände mit seinen.
„Ist ja gut. Keine Angst.“, sagte er. Wärme! Leben! Unverhohlen starrte sie ihn an, doch es schien ihn nicht zu stören, so als wäre er es gewohnt, angestarrt zu werden. „Wie heißt du also, Kleine?“, fragte er sie und ein wenig Zabota wich aus seinen Zügen. Fröhlich wollte sie ihm antworten, als sie feststellte, dass sie trotz der Wärme, der Wirklichkeit und des lebendigen Gefühls, das sie durchströmte, immer noch keine Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Wie sie geheißen hatte. Wo sie herkam. Wie alt sie war. Wieso sie hier war. Wieso sie laufen musste. Warum? Weshalb? Trauer schlich sich auf ihr Gesicht, ihre Augen wurden feucht. Verzweiflung keimte in ihrem Herzen. Hilflosigkeit. Sie rang mit sich. Dieses unglaubliche Gefühl flackerte in ihr auf, aber dennoch wusste sie nicht, wer sie war. Sie wusste nichts! Es war so ungerecht! Zabota in seinen Augen.
Sie beschloß ihm einfach den Namen zu nennen, den sie sich selbst gegeben hatte. Vorsichtig öffnete sie den Mund, denn sie wusste, das musste sie tun, wollte sie sprechen, doch ihr wurde klar, dass sie noch nie gesprochen hatte, seit sie erwacht war. Noch nie hatte sie ihre Stimme benutzt. Ihr Hals fühlte sich trocken an, kratzend und rau, so als hätte sie Sand geschluckt, als die kalte Nachtluft in ihn hinein strömte. Sie schmeckte den Rauch und das Feuer auf ihrer Zunge. Heiß und wild. Unsicher versuchte sie einen Ton zu erzeugen und ihn mit ihren Lippen zu formen. Sie wusste wonach es klingen musste, aber würde es auch so klingen, wenn sie es aussprach? Sie hatte Angst, ihre Stimme würde versagen. Sie hatte Angst, sie würde so unwissend klingen wie sie war.
„Odinoki.“, krächzte sie heiser. Ihre Stimme wirkte im Gegensatz zu seiner unwirklich und entrückt. Kraftlos und undeutlich. Doch er nickte lächelnd. „Odinoki, also.“, wiederholte er. Freude wirbelte in bunten Fäden durch ihre Gedanken und sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie hatte es geschafft! Odinoki! Odinoki! Odinoki! Innerlich jubelte sie. Ein Lachen jedoch kam nicht über ihre Lippen. Zwar öffnete sie den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor. Vielleicht war ihre Kehle doch noch zu ausgetrocknet. Für heute musste es reichen mit dem Sprechen.
„Mein Name ist Klaus Peter.“, erklärte der blonde Mann ihr. „Klaus Peter Schneider.“
Auch sie nickte lächelnd und blickte ihn an, fühlte seine Hände auf den ihren. Mit einem mal wurde es ihr egal, dass sie nichts mehr von sich wusste. Dass sie nicht wusste, wer sie war. Heute Nacht begann ein neues Leben. Ein Leben als Odinoki! Ein Leben, dass sie komplett neu schreiben konnte, so wie es ihr gefiel! Und es begann mit ihm. Mit Klaus Peter Schneider.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gemüt und Angst sammelte sich wie Staub über ihrem Herzen. Ihr Lächeln verschwand, ein düsterer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie lauschte. Sie lauschte konzentriert und eindringlich. Doch sie hörte nichts. Sie befürchtete, jeden Moment das Flüstern zu hören, das ihr befehlen würde weiter zu laufen. Immer und immer weiter zu laufen. Doch sie hörte nichts. Da war nichts. Die erwartete Stimme blieb aus. Sie war verschwunden.
Odinoki lächelte.
Kapitel XII
Odinoki
Ein schmale Rauchsäule stieg zwischen den zwei Holzstücken auf, die von den Händen des Mädchens kräftig aneinander gerieben wurden und kräuselte sich als grauer Faden durch die kühle Abendluft. Der Geruch der enstehenden Glut stieg ihr in die Nase. In dem trockenen Gras, das sie ausgerissen hatte, begann es zu glimmen. Nun legte sie ihre Hände um die kleine Feuerstelle und blies ein paar mal kräftig hinein, nährte den keimenden Brand. Bereits jetzt liebkoste die Wärme ihre steifen Finger. In kleinen Wolken stand ihr Atem vor ihren gesprungenen Lippen und verlieh der Kälte einen malerischen Ausdruck. Die Nacht würde eisig werden. Und es dämmerte bereits. Die Sonne zog sich zurück und hinterließ nur noch einen roten Glanz irgendwo hinter den hohen Bergen am Horizont. Sie musste sich beeilen!
Schließlich, nach einiger Zeit und weiterem Reiben kämpfte sich eine kleine Flamme aus den verdorrten Halmen und begann gierig nach ihnen zu lecken. Nach und nach fraß sie an ihnen, entzündete sie mit ihrer züngelnden Gier. Die Flamme wuchs.
Das Mädchen legte nun ein paar tote, abgebrochene Äste in das Feuer und beobachtete, wie es nach dem leblosen Holz griff, immer und immer größer wurde. Nach einer Weile würde sie ein paar dickere Scheite hinein legen, damit das Brennen reiche Nahrung hatte. Welche, von der es länger zehren konnte. Dann musste sie nur noch darauf achten, dass es über Nacht nicht erlosch und hin und wieder trockenes Holz nachlegen. Sie fürchtete sich nicht vor der Finsternis, die das Verschwinden der Sonne brachte, nein, im Gegenteil, sie liebte sie. Jedes mal wenn die Dunkelheit sie umfing fühlte sie sich wohl. Geliebt. So, als würde der Abend seine väterlichen Arme zärtlich um ihre Schultern legen. Im Dunkeln war sie zu Hause. Sie liebte es.
Doch die Nacht brachte auch die Kälte, ein gnadenloser Gegner, dem sie in ihren zerfetzten, dreckigen Lumpen nicht gewachsen war. Ein Gegner, der sich nur mit einem wärmenden Feuer bekämpfen ließ. Ihr war klar, dass sie ohne solch' ein Feuer in der Nacht bitterlich frieren, vielleicht sogar erfrieren würde. Außerdem half der Rauch gegen wilde Tiere, vertrieb sie mit seinem gefährlichen Gestank, mit seiner Drohung von Asche und Tod. Sie rieb sich die Hände, blies in sie hinein, wie zuvor bereits in die Glut und hielt sie dann so lange dicht an die tanzenden Flammen, dass die Hitze unerträglich wurde und ihre Finger zu schmerzen begann. Sie setzte sich im Schneidersitz vor das Feuer, legte das erste größere Stück Holz hinein und starrte verloren in das orange Licht. Die ersten Flammenkronen loderten mit blauem Glanz auf und haschten vorsichtig nach dem dicken, abgestorbenen Ast, betasteten ihn prüfend, ehe sie ihn mit aller Gewalt einfingen. Wohlige Wärme überzog den, vor Schmutz starrenden Körper des Mädchens.
Bis zu ihren Knien hinauf trug sie Stiefel aus getrocknetem Schlamm über ihren nackten Füßen und auf ihren Oberschenkeln waren Grasflecken und verschmiertes Harz. Ihre Beine waren voller Prellungen, voller blauen und schwarzen Flecken und überzogen mit endlosen Kratzern, flachen Schnittwunden und Stichen. Sie war gelaufen. Gelaufen durch den Wald. Durch Unterholz und über Steine. Durch reißende und stechende Dornensträucher, bösartige Ranken. Sie war gelaufen. Viele, viele Tage lang, so schien es ihr wenigstens. In ihren schwarzen, verfilzten Haaren klebte noch der Ruß der vergangenen Feuer, der vergangenen Nächte. Es waren so viele gewesen.
Sie war gelaufen. Gelaufen und gelaufen. Planlos und ohne Ziel. Einfach nur gelaufen. Wohin? Das wusste sie nicht.
Sie wusste überhaupt nichts mehr. Ihr Kopf war einfach leer, so als hätte man mit einem Lappen alles weggewischt was vor dem Tag geschehen war, an dem sie aufgewacht war, allein gelassen in hüfthohem, feuchtem Gras. Allein gelassen in einem dunklen Wald mit knorrigen, alten Bäumen, die zornig auf sie herabgestarrt, im Wind böse Dinge geflüstert hatten. Allein gelassen, ganz auf sich selbst gestellt. Sie wusste nichts mehr. Nicht einmal mehr ihren Namen. Sie nannte sich selbst „Odinoki“. Einsam. In ihrer Sprache. Offensichtlich beherrschte sie zwei Sprachen, das war ihr aufgefallen, denn die wirren Gedanken in ihrem Kopf klangen mal so und mal so, bedeuteten aber immer das gleiche und sie verstand es. Geh fort von hier.
Anfangs hatte sie Angst gehabt. Sich gefürchtet. Alleine in der Wildnis, ohne das Wissen wer oder was sie eigentlich genau war. Doch dann hatte sie angefangen diese Worte zu hören und sie trieben sie fort von etwas. Von was, das wusste sie nicht genau, sie wusste nur, dass sie fort musste. Es gab ihr eine Richtung und der folgte sie. Sie war einfach nur gelaufen. Tagelang.
Geh fort von hier.
Vor ein paar Feuern dann, waren die schwarzen Schatten des Gebirges am Horizont aufgetaucht. Sie wusste was Berge waren, auch wenn sie noch nie so große gesehen hatte und fürchtete sich vor dem, was geschehen würde, sollte sie sie je erreichen. Sie gehorchte der Stimme zwar, doch das gefiel ihr nicht. Es löste eine Leere in ihr aus. Eine Kälte, die kein Feuer vertreiben konnte, aber es war wie ein Zwang und sie musste einfach laufen. Einfach nur laufen. Immer und immer weiter. Einmal hatte sie ihr Spiegelbild gesehen, verzerrt von den fließenden Wassern eines Flusses und sie hatte festgestellt, dass sie zu denen gehörte, die sich Mensch nannten. Sie erinnerte sich dunkel an die Menschen. Es waren keine guten Erinnerungen. Sie hatte schon vorher die Ahnung gehabt einer zu sein, da ihr kein Fell auf Armen oder Beinen wuchs, aber erst nach dem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, war sie sich wirklich sicher gewesen.
Ihr Magen knurrte. Sie hatte Hunger, doch sie aß eigentlich nur sehr selten was. Die Stimme sagte ihr nicht, dass sie etwas essen sollte, also tat sie es auch nicht, es sei denn sie hatte solange nichts zu sich genommen, dass ihr schlecht wurde oder sie vor Entkräftung fast zusammenbrach. Wenn, dann nahm sie Beeren von den Sträuchern oder dunkle Pilze, nicht die bunten, denn aus einem unbestimmten Grund stellten sich ihr bei ihrem Anblick vor Furcht die Nackenhaare auf. Manchmal fand sie auch kleine, harte Nüsse an Bäumen, die man ebenfalls essen konnte.
Menschen, Berge, Beeren, Pilze, Nüsse, ja, allein die Tatsache, dass sie wusste wie man ein Feuer schürte, all' das war Wissen, von dem sie nicht wusste woher es kam. Es war fast, als würde es aus ihr entspringen, als wäre es ihre eigene Erinnerung, als hätte sie all' das irgendwann wirklich einmal gewusst. Aber so fühlte es sich nicht an. Es war, als käme es von einer anderen Person, die ihr die Dinge zuflüsterte, die sie wissen musste. Denn sie selbst wusste nichts mehr. Es kam nicht von ihr, nicht aus ihr. Aus ihr kam nur eines.
Geh fort von hier.
Versonnen beobachtete sie das Spiel des Feuers und legte einen weiteren dicken Ast hinein, damit die Flammen nicht erloschen. Funken stoben auf und die Asche der verbrannten Hölzer wirbelte ein wenig umher. Ruß legte sich auf ihren knochigen, dürren Arm. Mit einem schmalen Stock stocherte sie gelangweilt in der Glut. Nachts konnte sie nicht laufen. Es war zu kalt und zu dunkel. Auch wenn sie die alles einhüllende Finsternis liebte, so konnte sie nicht sehen wo sie hin trat und stolperte oft, schlug sich Wunden an den Beinen und lief am nächsten Tag nur langsamer. Sie würde mehr Zeit verlieren, als sie gewinnen könnte, würde sie nachts laufen. Außerdem wurde sie irgendwann immer müde. Ihr menschlicher Körper wollte nicht so, wie sie wollte. Es war wie mit dem Hunger. Nach einer bestimmten Zahl an Schritten, die sie nicht mehr zu zählen vermochte, schlich sich die Schwäche in ihr Fleisch. Erschöpfung ließ sie matt werden und immer, immer langsamer, wenn sie nicht rastete. Wohl oder übel, ob sie wollte oder nicht: sie musste die Nacht ruhen und am Feuer verbringen. Es ging nicht anders.
Sie würde einfach hier sitzen, in die Flammen starren, die Wärme auf ihren Gliedern genießen und früher oder später einschlafen. Irgendwann in der Nacht würde die Kälte sie wecken, dann musste sie schnell Holz nachlegen, das Feuer neu schüren und würde wieder einschlafen. Sie würde so lange schlafen, bis die Sonne ihre Strahlen über die Spitzen des Gebirges sandte und das Land in helles Tageslicht tauchte. Licht, das in den Augen schmerzte, wenn man sie nicht zusammen kniff. Dann würde sie erwachen und einfach los laufen. So und nicht anders tat sie es immer.
Lange saß sie regungslos vor dem flackernden Feuer, starrte hinein und wartete auf den Schlaf. Er kam mit leisen Schritten, ließ erst ihre Lider schwerer werden, dann ihre Glieder und übermannte sie schließlich. Langsam sackte ihr Kinn auf ihre Brust und zunehmende Unschärfe verschleierte ihre Gedanken und die leise, unermüdliche Flüsterstimme.
Geh fort von hier.
Dann war sie eingeschlafen.
...
Odinoki schreckte auf. Nicht die Kälte hatte sie wie üblich geweckt, denn die Flammen flatterten noch munter und wärmend durch die Schwärze der Nacht. Etwas anderes hatte sie aus dem Schlaf fahren lassen. Es war ein leises Knistern und Knacken, doch es kam nicht aus dem Feuer, so wie sonst, nein, es war hinter ihr erklungen. Erschrocken umklammerte sie ihre Knie mit den Armen und biss sich ängstlich in den Daumen. Sicherlich war es nur ein harmloses Tier, wie ein Vogel oder ein Wiesel, eine Feldmaus oder vielleicht ein Dachs. Sicherlich war es ungefährlich und die Laute würden gleich aufhören, würden enden.
Das Knacken des Unterholzes verebbte leider nicht, im Gegenteil, es schien lauter zu werden, sich ihr zu nähern. Unsicher wanderten ihre Augen von rechts nach links. Sie wusste nicht was sie tun sollte.
Geh fort von hier.
Doch sie wagte es nicht sich zu bewegen, wagte es nicht das schützende Feuer zu verlassen. Die Geräusche wurden lauter und lauter, etwas großes bewegte sich unvorsichtig und lärmend auf sie zu. Was auch immer es war, es war größer als ein Vogel, ein Wiesel, eine Feldmaus oder ein Dachs und es fürchtete sich bestimmt nicht vor Feuer. Und bestimmt auch nicht vor ihr. Voller Angst schloss sie die Augen, presste sie zusammen und verbarg den Kopf zwischen Armen und Knien, so als könnte sie das beschützen. In ihrem Kopf schwollen die Laute, das Knacken und das Knistern zu einem gewaltigen, lähmenden Orkan an und drangen in jeden ihrer Sinne. Füllten sie mit Furcht aus. Angst. Dann endete es. Es war still.
Verwundert hob Odinoki den Kopf. Ihr war nichts geschehen. Sie öffnete ihre Augen und erschrak geräuschlos, umklammerte ihre Knie mit neuer Kraft. Vor ihr stand ein anderer Mensch. Ein Mann, so glaubte sie. Er stand einfach da, direkt vor ihr und betrachtete sie. Sie sah ihn an. Dunkelblonde Haare hingen ihm in dicken Strähnen fast bis auf die Schultern, bebten sachte im Wind, als bewegten sie sich zusammen mit dem zitternden Schein des Feuers, der seine blasse Haut erleuchtete, tiefe Schatten in sein Gesicht malte und seinen Augen ein glühendes Rot verlieh. Glühende, rote Augen. Eine Erinnerung zuckte in ihrem Geist empor, flackerte gleich einer Stichflamme kurz auf und verließ sie dann wieder. Sie hatte ein Bild von diesen Augen in ihrem Kopf, aber sie konnte es nicht einordnen. Rote, glühende Augen. In diesen Augen, die sie eindringlich betrachteten, lag etwas, das sie zunächst nicht einsortieren konnte. Lange suchte sie in ihrem wirren Geist nach einem Wort, das diesen Blick zu beschreiben vermochte. Sie fand es. Zabota. Sorge.
Er war in einfache Kleider aus Leinen gehüllt, so wie auch sie selbst, doch nicht so zerschunden und zerrissen. Dafür aber genauso dreckig, wenn nicht noch schlimmer. Dicker Staub steckte zwischen den Fasern seiner Kleidung, hüllte ihn ein wie eine Wolke, ein Nebel der ihn verfolgte. An seinen Füßen saßen echte Stiefel und keine aus Schlamm, auch trug er im Gegensatz zu ihr eine Hose aus rauer Tierhaut – Kozha- Leder - und nicht bloß ein Hemd.
Sie war sich unschlüssig was sie tun sollte. Was wollte er von ihr? Sie fressen? Warum hatte er es dann noch nicht getan? Sein Blick verwirrte sie. Es sah nicht aus, als wolle er ihr etwas antun. Sie versuchte ungefährlich auszusehen.
„Wer bist du?“, erklang seine Stimme. Seine Worte hallten unheimlich lebendig durch ihren Verstand. So viel schärfer und echter als die Stimme, die sonst zu ihr flüsterte. Sie zuckte zusammen. Die Worte rollten laut und kraftvoll aus seinem Hals und zunächst fühlten sie sich schmerzhaft in ihren Ohren an, doch bald hinterließen sie einen warmen, wohligen Nachklang. Sie wünschte sich, er würde nochmal etwas sagen. Auch wenn sie verstanden hatte was er gesagt hatte, denn es klang wie die eine Sprache aus ihren Gedanken, antwortete sie ihm nicht. Sie wusste nicht, was er hören wollte. Aus großen Augen starrte sie ihn an.
Zabota füllte sein Gesicht aus und er ging in die Knie, sah ihr genau in die Augen. Vielleicht hatte sie ihn erschreckt, weil sie nichts gesagt hatte? Er wiederholte die Worte und fügte ihnen neue hinzu:
„Wer bist du?“
„Wie heißt du?“
„Bist du ganz alleine?“
„Geht es dir gut?“
Wärmer als das Feuer durchfluteten seine Worte ihren Körper, heiß drang die Echtheit seiner sanften Stimme in ihren Geist ein. Es war so gut sie zu hören. Sie war so echt, fast als könnte sie sie greifen wie ein Stück Holz und sie den Flammen übergeben. Behutsam berührte eine seiner großen Hände ihre eingefallene Wange und schob ihr eine verfilzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Zabota. Das Gefühl seiner eiskalten Haut ließ sie zurück zucken, doch erneut belebte sie die Wirklichkeit seiner Hand. Es war, als wachte sie endlich auf. Als erwachte sie aus einem langen, tiefen Schlaf. Er zog seine große, kalte Hand zurück, doch eigentlich wollte sie, dass er sie erneut berührte.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“, sagte er zu ihr und seine Stimme brandete gleich einer sommerlichen Woge gegen sie. Schnell ergriff sie seine Hand. Sie wusste nicht, warum sie es getan hatte, doch sie wollte sie unbedingt fühlen. Seine kalte Haut. Diese eisige Wirklichkeit. Verwunderung trat in seinen Blick. Zabota blieb dennoch.
Er war unglaublich. Fasznierend. Mit ihren Fingern ertastete sie seine, hielt den Blick fest in seinen roten Augen verankert. Leben sprudelte heiß durch alle ihre Glieder, die Mattigkeit und die Leere der letzten Tage fielen von ihr ab und es war ihr, als fühlte sie zum ersten mal tatsächlich ihren Leib. Der Hunger wurde so übermächtig, dass ihr speiübel wurde, doch es war ein herrliches Gefühl. Ein wirkliches Gefühl! Die Stiche und Kratzer auf ihren Beinen begannen zu schmerzen und das Pochen ihrer Füße meldete sich anklagend. Sie war am Leben! Lebendig! Die Kälte die seit ihrem Erwachen im Gras in ihren Knochen gehaust hatte verschwand und wich einer unglaublich klaren Wahrheit. Einer Wirklichkeit! Einer Echtheit! Einer Wärme. Sie strahlte und lächelte ihn breit an. Zwar wirkte er immer noch verwirrt, doch er lächelte vorsichtig zurück. Sie knetete seine Finger, spielte wie wild mit ihnen herum und genoß ihre Greifbarkeit, ihre Form und das Gefühl, das sie in ihr auslösten. Die Eindrücke drohten sie zu erschlagen. Die Schmerzen ihrer Beine und Füße, seine Stimme, sein Blick, das unangenehme Jucken durch den vielen Schlamm auf ihrer Haut. Seine eiskalten, weißen Hände. Sie hätte Stunden so da sitzen können. Irgendwann zog er seinen Arm zurück, doch als darauf hin ein unglücklicher Ausdruck in ihr Gesicht trat, umfasste er ihre Hände mit seinen.
„Ist ja gut. Keine Angst.“, sagte er. Wärme! Leben! Unverhohlen starrte sie ihn an, doch es schien ihn nicht zu stören, so als wäre er es gewohnt, angestarrt zu werden. „Wie heißt du also, Kleine?“, fragte er sie und ein wenig Zabota wich aus seinen Zügen. Fröhlich wollte sie ihm antworten, als sie feststellte, dass sie trotz der Wärme, der Wirklichkeit und des lebendigen Gefühls, das sie durchströmte, immer noch keine Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Wie sie geheißen hatte. Wo sie herkam. Wie alt sie war. Wieso sie hier war. Wieso sie laufen musste. Warum? Weshalb? Trauer schlich sich auf ihr Gesicht, ihre Augen wurden feucht. Verzweiflung keimte in ihrem Herzen. Hilflosigkeit. Sie rang mit sich. Dieses unglaubliche Gefühl flackerte in ihr auf, aber dennoch wusste sie nicht, wer sie war. Sie wusste nichts! Es war so ungerecht! Zabota in seinen Augen.
Sie beschloß ihm einfach den Namen zu nennen, den sie sich selbst gegeben hatte. Vorsichtig öffnete sie den Mund, denn sie wusste, das musste sie tun, wollte sie sprechen, doch ihr wurde klar, dass sie noch nie gesprochen hatte, seit sie erwacht war. Noch nie hatte sie ihre Stimme benutzt. Ihr Hals fühlte sich trocken an, kratzend und rau, so als hätte sie Sand geschluckt, als die kalte Nachtluft in ihn hinein strömte. Sie schmeckte den Rauch und das Feuer auf ihrer Zunge. Heiß und wild. Unsicher versuchte sie einen Ton zu erzeugen und ihn mit ihren Lippen zu formen. Sie wusste wonach es klingen musste, aber würde es auch so klingen, wenn sie es aussprach? Sie hatte Angst, ihre Stimme würde versagen. Sie hatte Angst, sie würde so unwissend klingen wie sie war.
„Odinoki.“, krächzte sie heiser. Ihre Stimme wirkte im Gegensatz zu seiner unwirklich und entrückt. Kraftlos und undeutlich. Doch er nickte lächelnd. „Odinoki, also.“, wiederholte er. Freude wirbelte in bunten Fäden durch ihre Gedanken und sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie hatte es geschafft! Odinoki! Odinoki! Odinoki! Innerlich jubelte sie. Ein Lachen jedoch kam nicht über ihre Lippen. Zwar öffnete sie den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor. Vielleicht war ihre Kehle doch noch zu ausgetrocknet. Für heute musste es reichen mit dem Sprechen.
„Mein Name ist Klaus Peter.“, erklärte der blonde Mann ihr. „Klaus Peter Schneider.“
Auch sie nickte lächelnd und blickte ihn an, fühlte seine Hände auf den ihren. Mit einem mal wurde es ihr egal, dass sie nichts mehr von sich wusste. Dass sie nicht wusste, wer sie war. Heute Nacht begann ein neues Leben. Ein Leben als Odinoki! Ein Leben, dass sie komplett neu schreiben konnte, so wie es ihr gefiel! Und es begann mit ihm. Mit Klaus Peter Schneider.
Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gemüt und Angst sammelte sich wie Staub über ihrem Herzen. Ihr Lächeln verschwand, ein düsterer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie lauschte. Sie lauschte konzentriert und eindringlich. Doch sie hörte nichts. Sie befürchtete, jeden Moment das Flüstern zu hören, das ihr befehlen würde weiter zu laufen. Immer und immer weiter zu laufen. Doch sie hörte nichts. Da war nichts. Die erwartete Stimme blieb aus. Sie war verschwunden.
Odinoki lächelte.
Zuletzt bearbeitet: