Ohne weiteres Gerede anbei der, meiner Meinung nach, düsterste Teil, den ich bisher geschrieben habe.
Kapitel XVIII
Der weiße Mann
Mit einem Schrei zerrte Slawa einen gleißenden Blitz aus dem bedrohlich aufgewühlten Himmel, entriss ihn gnadenlos der schwarzen Wolkenflut, die über die alte Welt hereinbrach und ließ die Dunkelheit für einen kurzen Augenblick in flammendem Licht verbrennen. Ein Donnerschlag dröhnte durch die tosende Nacht und verschluckte das bösartige, von unheilvoller Freude vollgesogene Lachen des Vampirfürsten, der sich auf der höchsten Turmspitze seines Schlosses, dem Drakenhof, befand. Der Umhang, der sich um die Schultern des von Carstein schlang, flatterte im Wind wie eine lange, schwarze Fahne, peitschte über das Geländer des Turms, auf dem sein Träger stand und schleuderte wütend das Wasser umher, das sich aus der Dunkelheit über ihm ergoss. Mit finsteren, uralten Worten biss Slawa in das Tosen des zornigen Wetters, warf die Fäden seiner unheiligen Magie gegen die Winde und griff mit gierigen Krallen in die Wolkentürme, zog sie aus den Ödlanden im Osten über das Gebirge, auf dass sie das Land in Schatten hüllten. Er zog sie weit über die Ländereien Sylvaniens, über das Imperium mit seinen Kurfürstentümer, bis hin zu den grauen Bergen und dem vereisten Kislev. Mit seiner Macht hüllte er die gesamte alte Welt in ein Unwetter, wie sie es seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte. Die ihm so sehr verhasste Sonne, würde auf Wochen nicht mehr am Himmel zu sehen sein. Alles was auf die Menschen und Scheusale dieser Welt in der nächsten Zeit hinab regnen würde, wäre Schnee, Hagelkorn und Blut. Statt dem Sonnenlicht würde seine endlose Grausamkeit auf ihre Häupter scheinen, er würde sie im Glanze seiner unstillbaren Gier erleuchten, sie allesamt zu Sklaven oder Märtyrern ihres Gottes machen. Bald schon wäre es soweit! Bald! Alles war vorbereitet, die Leichenkarren hatten ihm die toten Leiber unzählbarer Menschenseelen gebracht, die Gruben waren so voll, dass es unmöglich geworden war, die Ghule vom Fressen abzuhalten, aber es kümmerte ihn auch nicht mehr. Er hatte genug, mehr als genug! Mit Hilfe seiner niederen Vampire und Nekromanten würde er das Heer der verlorenen Seelen heraufbeschwören, würde altes, brüchiges Gebein und lebloses Fleisch wieder mit unheiliger Kraft erfüllen und mit seinem unbezwingbaren Willen lenken. Er würde einen Sturm des Todes entfesseln, der das imperiale Heer verschlang, den Imperator niederwerfen und an seiner statt über das gebrochene Volk der Menschen herrschen. Grausam und mit eiserner Hand, ganz nach seinen Vorstellungen. Er, ganz alleine! Erneut stieß er ein boshaftes Lachen hervor, wie ein scharfer Schnitt durch die Luft peitschte es aus seiner Kehle und ließ einen Blitz in das schwarze Land am Horizont fahren. Ein weiteres mal krallte er sich mit seiner unheiligen Kraft in das Rumoren des Gewitters, türmte die Wolken noch höher auf und riss mit aller Macht an ihnen, ließ den Wind schneller wehen, ihn beißend werden und geschliffen wie eine Klinge, dass er den Sterblichen das Stroh von Dächern wirbelte und lähmenden Frost in ihren Gliedern säte. Erster Schnee wirbelte in dicken, weißen Flocken durch den Sturm, färbte Himmel und Land allmählich weiß und nahm dem strömenden Regen etwas von seiner gnadenlosen Härte. Der Winter brach an. Ein Grinsen entblößte die langen, scharfen Zähne des Vampirs, ließ ein hasserfülltes Feuer in seinen roten Augen lodern. Schnee und Frost zwangen die Menschen Jahr für Jahr hinter ihre Mauern, ließen sie an ihren kümmerlichen Vorräten zehren und nahmen ihnen jeglichen Willen zum Kampf. Seinen seelenlosen Kriegern allerdings machte der Winter keine Angst, im Gegenteil, er schien wie geschaffen für sein Vorhaben. Kurze Tage, keine Sonne, durchgefrorene und geschwächte Feinde. Alles lief großartig, gerade zu perfekt!
Lachend beugte sich Slawa über die Ballustrade des kleinen Balkons und warf einen Blick hinab in den Hof seines Schlosses. Eifriges Treiben zeichnete sich in der Finsternis ab, seine toten und lebenden Diener arbeiteten ohne Unterlass, zogen die verwesenden Leichen der Menschen über den aufgeweichten Untergrund und stapelten sie auf großen Haufen. Eine Wolke des Todes stieg von ihnen auf und hüllte den Drakenhof in den köstlichen Gestank verwelkenden Lebens, bildete eine große Blase des Verfalls um die schwarzes Turmspitzen, eine Warnung des Schreckens für jedes lebende Wesen. Kein Tier, ob Vogel, Wolf oder Maus wagte sich mehr in die Nähe des verfluchten Anwesens, wenn es nicht durch seinen bösen, unwiderstehlichen Willen dazu gezwungen wurde. Kilometerweit umringten die Leichenhaufen sein Schloss, vereinten ihn mit dem herrlichen Dunst des Verfalls, ließen ihn zu dem werden, was er sein wollte. Tod, Unheil und Verderben. Mit einem tiefen Atemzug sog er genussvoll den Gestank ein und freute sich wie ein Kind. Alles verging unter seinen schwarzen Fingern, wandelte sich in Asche und Staub. Seine Augen leuchteten grell und feurig wie selten zuvor, die Finger, die sich um das Geländer aus kaltem, dunklen Stein schlangen, bebten unter seiner vorfreudigen Ungeduld. Bald! Bald war es soweit. Wieder lachte er ein finsteres, kreischendes Lachen, übergab es mit einem gehauchten Kuss dem heulenden Wind und ließ es in die Städte der Menschen tragen, um ihnen eine Gänsehaut auf ihre kümmerlichen Rücken zu jagen. Noch lange hörte er seine eigene Stimme durch den Sturm geistern. Schwarze Fäden nekromantischer Macht troffen von seinen bleichen Lippen, hingen an seinen Zähnen und füllten seinen Mund mit einem süßen, fauligen Geschmack, wie von zu reifem Obst Für ihn ein lang vergessener Geschmack. Mit einem Zungenschlag sog er die Schlieren auf und das Schwarz in dem verzehrenden Feuer seiner Augen wurde schmal. Ein Stechen fuhr durch seinen Leib und entlockte ihm ein schmerzerfülltes Keuchen. Mit einmal fühlte sich seine Haut zu eng und taub an, ihm wurde kalt und ein Schaudern kroch ihm über den Rücken.
So viel Hexenwerk zu verrichten kostete ihn einiges an wertvoller Kraft. Slawa hatte Jahrzehnte über uralten, eingestaubten Folianten gehockt, während Konrad, Vlad, Manfred und Kasimir über hunderte von Jahren hinweg den Drakenhof regiert hatten, fruchtlose Schlachten gegen das Imperium schlugen und am Ende doch alle vernichtet wurden. Früher hatte er sie bewundert, ganz besonders Vlad, hatte ihre Macht, ihre Stärke und ihre Größe verehrt, doch mittlerweile empfand er beinahe schon Verachtung für ihre Schwächen. Den Höhepunkt des Verfalls des Geschlechts der von Carsteins, hatte eindeutig Kasimirs Herrschaftsperiode dargestellt. Glücklicherweise zog sich der Drang seines Vorgängers, das Imperium mit diplomatischer List zu schwächen und sich Stück für Stück anzueignen nur durch wenige, kurze Dekaden. Slawa hatte in dieser Zeit bereits alles für seine Machtübernahme vorbereitet, seinem Namen unter den niederen Vampiren einen reizvollen Klang verliehen, sich selbst erhöht und nicht zuletzt durch seine untoten Krieger hatte er nach Kasimirs Tod schließlich den Drakenhof fordern können. Sehnsüchtig hatte er auf den Fall des schöngeistigen Politikers gewartet. Kasimir hatte eine viel zu weiche Seele gehabt, eine beinahe menschliche, mitleidige Seite, die ihn schwach und verletzlich gemacht hatte. Letztendlich war er in der großen Schlacht gegen einen Sigmarpriester gefallen. Slawa schnaubte verächtlich. Ekel befiel ihn, wenn er an Kasimirs sinnloses Intrigengespinne und seine politischen Anwandlungen dachte. Nutzlos und schwach. Mit einem Hammer gnadenlos einen Nagel in die Seele des menschlichen Reiches zu treiben, das war die einzige Lösung, die es zu dem seit Ewigkeiten währenden Kampf gegen den Imperator und seine Kurfürsten gab. Hämmern. Alles tot schlagen.
Dennoch empfand Slawa einen gewissen Respekt für Kasimirs beachtliches nekromantisches Können. Ebenso wie er selbst hatte auch sein Vorgänger die Lehren der schwarzen Magie und die Lehren der Schatten studiert, eng mit der Nekromantie verwandte Hexerei, die es vermochte Sturm und Nebel herauf zu beschwören, Angst in den Herzen der Sterblichen zu säen, Feinde erblinden zu lassen und mehr dergleichen. Außerdem hatte er die besonderen Fähigkeiten der von Carsteins meisterlich zu verwenden gewusst. Slawa hatte damals viel von ihm lernen können. Auch wenn er kaum eine Silbe mit ihm gewechselt hatte, so hatte er ihm doch einige Bücher und Folianten voll von uraltem, magischen Wissen gestohlen, um sie anschließend zu studieren und aus ihnen zu lernen. Kasimirs Jagd nach dem verborgenen Wissen dieser Welt hatte ihm erst die Möglichkeit verliehen, seine Kräfte zu dem zu formen, was sie jetzt waren. Machtvoll.
Doch diese Macht kostete ihn Kraft, schwächte ihn und machte ihn mürbe. Wenn er einen Zauber wie diesen wirkte, ja, gleich einen ganzen Sturm über das Land zog, dann erschöpfte er sich schnell. Wenn er jetzt noch mehr in den Winden rührte, dann würde er bald ruhen müssen, noch ehe er hatte speisen können, was bedeutete, er musste die nächste Nacht damit beginnen, auf die Jagd zu gehen und das wollte er nicht. Kurz dachte er an das Mädchen, dass er vor einigen Wochen aus dem Leichenkarren gezogen hatte. Hätte er sie nicht verstoßen, dann könnte er jetzt von ihrem Blut kosten, müsste sich kein reines Blut suchen, sondern hätte welches, das in seinem Schloss auf ihn wartete. Doch nur kurz erfüllte ihn der Gedanke mit einem wehleidigen Gefühl, ehe er ihn anwiderte. Dieses verabscheuungswürdige Geschöpf hatte ihn nicht nur vergöttert, wie er es sich vorgestellt hatte, sie hatte sich in ihn verliebt, ihn mit ihren dreckigen Pfoten betatschen wollen, hatte bei seiner Berührung lustvoll gestöhnt, als wäre sie seine Mätresse und nicht sein Opfer. Diese kleine Hure! Ihm schauderte es. Menschen waren ekelhaft. Kleingeistig und schmutzig, nicht mehr als Vieh, welches als Nahrung für seine Art diente. Das Problem war nicht ihre Unbedeutsamkeit, nicht ihre Nutzlosigkeit und nicht ihr abscheuliches Verhalten, schließlich konnte er jene, die durch die Aasfresserei zu Ghulen geworden waren sorgenfrei um sich scharen, nein, das Problem war ihre grenzenlose Anmaßung! Sie glaubten fest daran, sie seien höhere Geschöpfe, die Herren dieser Welt, Richter über Tod und Leben. Was sie für schlecht erklärten, musste schlecht sein, was sie für heilig hielten, war heilig. Sie sahen sich selbst als Könige dieser Lande und waren nicht mehr als schleimige, kriechende Maden, die er nur zu gerne unter seinen Stiefeln zertrat. Ihr kurzes Leben bedeutete gar nichts, nicht mal ihnen selbst genug, als dass sie sich nicht zu schade wären, sich gegenseitig abzuschlachten, zu verstümmeln, zu verraten und betrügen, zu morden und vergewaltigen. Und nun kam jemand wie er daher, der all' diesen Unrat, diese Schande, diesen Dreck ausmerzen wollte und plötzlich war er selbst das Übel! Ein leises, aber grausames Lachen verließ seine Lippen. Die von Carsteins dieser Welt waren bloß der Spiegel, der den Menschen vorgehalten wurde. Sie sahen in ihr eigenes verabscheuungswürdiges Antlitz. In Bosheit, Gier und Hass.
Oh, wie er diese Würmer hasste! Wie er ihr Jammern hasste, ihr Flehen und Kriechen! Ihr Katzbuckeln und Schleimen! Er hasste es, wenn sie wütend wurden und dachten, nun nähme man sie ernst, wenn sie tobten und zornig ihre kratzigen, schmutzigen Stimmen hoben. Er hasste ihre Liebe, ihr Mitleid und ihr Glück. Er hasste es, wenn sie sich freuten und er hasste es noch viel mehr, wenn sie weinten. Sich selbst bemitleideten, plärrten wie Säuglinge und in blinder Blödheit ihren Gott anbeteten, einen einfachen Schmied in Latzhose. Sie waren der Abschaum dieser Welt! Sie waren das Übel! Nicht er, oh nein!
Zornige Adern traten schwarz auf Slawas weiße Stirn und pochten bedrohlich. Die Flammen in seinen Augen loderten auf wie ein wilder, ungezähmter Brand, schienen hasserfüllte Funken zu sprühen. Oh, wie er es hasste!
Mit einer heftigen Bewegung raffte er seinen nassen Mantel eng um sich, hüllte sich in die Schwärze der Nacht. Er wurde zu einer finsteren Statue auf der höchsten Sturmspitze, schien starr wie Fels, unbeweglich und tot, nur seine glühenden Augen verrieten sein wahres Wesen. Er öffnete mit knackenden Lauten den Mund und stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, dass sich den lebenden seiner Diener im Hof die Nackenhaare aufstellten. Ein drohendes Summen ging durch die Festung, der ganze Turm schien zu erbeben, während Slawa sich komplett in seinem Umhang verbarg, mehr und mehr zu einer dunklen Säule zu werden schien. Mit einem mal brachen hunderte Fledermäuse aus dem Schloss! Klirrend sprangen Fensterscheiben, Türen wurden wuchtvoll aufgeworfen, rissen aus den Angeln, mussten dem Andrang der geflügelten Schatten weichen, die sich als gewaltige schwarze Masse erhoben, hoch zur Turmspitze flatterten und die finstere Gestalt des Vampirfürsten gleich einer Wolke umfingen. Das Tosen unzähliger Flügelschläge tobte um ihn herum, dröhnte mit kaum geahnter Macht in seinen Ohren. Menschen hin oder her, so abartig sie auch sein mochten, er musste ihr Blut kosten, musste sie aussaugen, jeden Tropfen, bis sie zu weißer Kreide wurden, musste ihre Seelen fressen und sie danach achtlos fortwerfen, ihr Grab verfluchen und auf es spucken! Hunger und Hass umfingen seinen Verstand, ließen ihn rasend und ungeduldig werden. Sein untotes Herz donnerte in seiner Brust, seine Haut prickelte. Fressen!
Kreischend wirbelte er herum, riss seinen Mantel beiseite und stieg als gewaltiger, schwarzer Schatten in den Schwarm der Fledermäuse auf, wurde von ihnen umhüllt, wie von einem lebendigen Gewand. Am Horizont blitzte es mehrfach, es donnerte laut und gefährlich, der Wind heulte auf. Regen peitschte gegen die wogende Masse aus Finsternis, eine allumfassende Schwärze, die nur von den flammenden Augen des Vampirs durchbrochen wurde. Slawa flog mit dem Schwarm, folgte dem grenzenlosen Gestank der Menschenseelen, um sie zu verschlingen! Fressen! Gierige Vorfreude brodelte in ihm.
Slawa von Carstein, Herr aller Menschen!
Weit unter sich sah er das, vom Sturm gebeutelte, Land in dunklen, raschen Bahnen hinwegziehen. Er spürte den beißenden Wind ängstlich vor ihm weichen, hörte das Rauschen seines Mantels und das Dröhnen der Flügel seiner zahllosen Diener. Er schrie vor heißem Verlangen, seine Gier nach Blut trieb ihn voran, ließ ihn schneller und schneller werden. Ganze Meilen verschlang sein Flügelschlag in nur wenigen Bruchteilen seiner Unendlichkeit und erbarmungslos folgte er dem Gestank von Leben. Seine Augen durchbohrten die Nacht wie Dolche und formten das fliehende Land vor ihm zu einer verschwimmenden Masse.
Gerade als der Gestank alle seine Sinne einzunehmen drohte, löste sich Slawa aus dem Schwarm der Fledermäuse. Um ihn herum krochen die Rauchsäulen einer Stadt empor. Die Menschen befeuerten ihre Essen in diesen kalten Tagen unablässig. Weit erstreckten sich die Häuser unter ihm, gewiss lebten hier noch eine hundert Seelen, trotz des schleichenden Todes, den die Pest brachte. Der eindringliche Geruch von sattem, rotem Blut brachte ihn schier um den Verstand. Fressen! Hier war er genau richtig!
Ein Windstoß umfing ihn, riss ihn herum und verwirbelte seinen Mantel, der ihn mit einem mal völlig umschlang. Slawa vollführte eine elegante Drehung in der Luft, befreite sich aus dem, vom Regen durchtränkten Stoff und binnen eines Lidschlags war aus dem geflügelten, unheiligen Schatten wieder der schlanke Körper eines Vampirs geworden.
Nun, da er seine gewöhnliche Form zurück gewonnen hatte, fiel er ohne Halt den Schornsteinen der Menschen entgegen. Mit rasender Geschwindigkeit stürzte er in die schwarze Stadt, deren Häuser innerhalb weniger Sekunden immer größer und größer wurden. Die weichende Luft riss an seinen Kleider und Haaren, wirbelte sie über ihm durch die Nacht. Kurz vor seinem Aufprall griffen seine Finger in den schwarzen Stoff seines Mantels, warfen ihn schwungvoll zur Seite und spannten ihn auf wie gewaltige Flügel. Augenblicklich endete sein Fallen. Mit einer gespenstischen Anmut schwebte er hinab, erreichte mit spitzen Füßen einen hölzernen Balkon und landete geräuschlos. Ohne jeden Laut glitt der Saum seines Umhangs auf das Holz, legte sich um den Leib des Vampirs wie eine zweite Haut. Slawa richtete sich auf und strich seine Kleider glatt.
Fressen!
Seine Augen brannten lichterloh. Mühselig beherrschte er sich, wahrte mit letzter Kraft den Anstand, warf die langen, schwarzen Haare in den Nacken und richtete sich den Kragen seiner seidenen Weste. Völlig durchnässt, aber ordentlich. Er atmete noch einmal tief durch und setzte ein freundliches Lächeln auf, dann warf er einen kurzen Blick auf die Fassade, die sich vor ihm erstreckte. Die Familie die hier lebte musste sehr reich sein. Zwei Stockwerke, verglaste Scheiben, ein Balkon und der Dachgiebel war sogar mit Schnitzereien verziert. Er hatte ein gutes Viertel erwischt. Wie geplant. Sehr gut! Freudig trat er mit gemächlichen Schritten an das Fenster neben der hölzernen Tür, räusperte sich kurz und klopfte gegen das Glas...
Lejla verbarg sich unter ihrer Bettdecke und zog sich ihr Kopfkissen über den Kopf. Trotzdem hörte sie das Krachen und Grollen vor dem Fenster laut und deutlich und dennoch sah sie das Licht, wenn ein Blitz vom Himmel zuckte und die Schatten weiß färbte. Der Regen prasselte geräuschvoll gegen die Fensterscheiben, ein stetiges Klopfen und Trommeln, das verhinderte, dass sie endlich einschlafen konnte. Sie seufzte. Ein besonders heftiger Donnerschlag zerriss die Nacht und das kleine Mädchen zuckte erschrocken zusammen. Wild pochte ihr Herz, ihr ganzer Leib zitterte, erbebte furchtsam. Sie hatte Angst vor Gewittern.
Zum Einschlafen hatte Mama ihr zwar eine kleine Kerze auf den Nachttisch gestellt, aber die war längst erloschen und sie hatte keine Streichbeine, um sie neu zu entzünden. In solchen Nächten blieb normalerweise Nikola bei ihr, eine Magd, die für Lejlas Vater arbeitete, und sang ihr ein Lied oder hielt ihre Hand, damit sie einschlafen konnte. Aber Nikola war krank geworden, genau wie ihr Vater, hatte ihre Mutter gesagt und würde nicht mehr wiederkommen. Es war schön, dass Mama sich jetzt um sie kümmerte, sie ins Bett brachte und mehr Zeit für sie hatte, aber dennoch vermisste sie Nikola und hoffte, dass ihr Kindermädchen bald wieder gesund werden würde, damit sie mit ihr spielen konnte. Obwohl sie nicht daran glaubte. Auch Papa war nicht wieder gekommen.
Außerdem hatte Mama gesagt, dass sie von hier fortgehen mussten. Bald! Sie sagte, es könnte sein, dass sie und Lejla sonst auch krank werden würden und sie meinte, dass bald böse Männer aus dem Boden kommen würden. Mama hatte gesagt, sie müssten weggehen. Eigentlich wollte Lejla nicht weg. Es gefiel ihr hier in dieser Stadt. Sie hatte hier ihre Freundinnen und von denen waren auch noch gar nicht alle krank, auch wenn sie die zur Zeit nicht treffen durfte. Zur Zeit durfte sie das Haus überhaupt nicht verlassen! Mama hatte es ihr verboten. Es sei nicht sicher, hatte sie gesagt. Lejla fand das ziemlich ungerecht. Sie hatte deswegen auch geheult, aber es hatte nichts gebracht. Mama war hart geblieben. Es musste immer alles so gemacht werden, wie Mama es sagte. Lejla freute sich darauf irgendwann einmal groß zu sein, so in hundert Jahren vielleicht, und dann selber zu bestimmen, wer was wann machen durfte. Dann müsste Mama früh ins Bett und sie könnte lange aufbleiben und mit ihren Freundinnen spielen!
Über ihre Gedanken um das Altwerden vergaß Lejla das Gewitter und ganz allmählich fielen ihr die Augen zu. Langsam kroch der Schlaf heran, nahm ihr nach und nach ihre Gedanken und schenkte ihr Träume dafür, doch als sie gerade eingedöst war, klopfte es auf einmal laut. Sie schreckte auf! Was war das? Das war doch nicht der Regen gewesen, oder? Es klopfte erneut. Ängstlich zog sie die Decke enger um sich. Jemand war da! An ihrem Fenster! Sie zitterte.
Wiederum klopfte es. Nicht beachten, sagte sie sich. Einfach nicht beachten. Doch es klopfte noch einmal. Und noch einmal. Letztlich war es schon gar nicht mehr so unheimlich. Als es schließlich zum sechsten Mal an der Scheibe klopfte wurde aus ihrer Angst Ärger. Wer wollte denn mitten in der Nacht unbedingt zu ihr, so sehr, dass er sich nicht endlich verzog? Sie wollte doch nur schlafen. Kinder brauchten ihren Schlaf! Was konnte es denn so dringendes geben? Zum siebten mal klopfte es.
Ihr kam ein plötzlicher Gedanke und ihre Augen strahlten vor unverhoffter Freude. War es vielleicht Papa? Kam Papa wieder? Aber, warum kam er nicht durch die Tür? Vielleicht hatte er unten geklopft, aber Mama hatte es nicht gehört und ihm nicht aufgemacht? Wer sonst sollte denn so oft an ihrem Fenster klopfen, wenn nicht Papa? Sonst wusste ja niemand, dass sie hier war, Lejla! Jemand der ihr Böses wollte würde bestimmt nicht klopfen, sondern einfach eindringen und bei dem schlechten Wetter wagten sich bestimmt nicht einmal Ungeheuer und böse Männer auf die Straße. Außerdem würden auch die bestimmt an der Tür klopfen.
Lejla warf die Decke von sich und sprang auf. Aufgeregt tippelte sie um das Bett herum und lief zum Fenster. „Ich komme, Papa, ich komme!“, rief sie, doch vor Aufregung war aus ihrer Stimme nur ein heiseres Wispern geworden. Auf den alten Dielen des Hauses knarzten selbst ihre leichten Schritte lauter. Sie erreichte das Fenster und zog, so gut sie konnte, den Vorhang beiseite. Zuerst erschrak sie, doch dann verdrängten Ärger und Enttäuschung den Schreck. Vor dem Fenster stand ein weißer, nasser Mann mit einem langen Mantel und schwarzen Haaren. Freundlich blickte er sie durch das Glas hindurch an.
„Du bist nicht mein Papa.“, stellte Lejla kompromisslos fest und wollte den Vorhang direkt wieder zu ziehen, doch der weiße Mann bückte sich und sah ihr direkt in die Augen. „Tut mir leid“, sprach er. „Hast du auf deinen Papa gewartet?“ Lejla nickte. „Weißt du“, fuhrt der weiße Mann fort, „ich habe eine Nachricht für dich, von deinem Papa. Soll ich sie dir verraten?“
Das kleine Mädchen nickte aufgeregt und stellte sich direkt ans Fenster. Sie war gerade so groß, dass sie ihr Kinn perfekt auf dem Fensterbrett ablegen konnte. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Doch der weiße Mann schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Erst musst du mich hineinlassen.“, sagte er. Lejlas Augen wurden eng und misstrauisch. Wieso wollte der Mann hinein? Jetzt war es an ihr den Kopf zu schütteln. „Keine Fremden im Haus, sagt Mama.“, antwortete sie dem weißen Mann und sah ihn wieder erwartungsvoll an. Dieser machte ein verwundertes Gesicht. „Wieso nicht?“, fragte er enttäuscht. „Es ist kalt und es regnet, ich kann ein Dach über dem Kopf gebrauchen. Magst du nicht so lieb sein und mich hinein bitten?“
„Nein. Du könntest krank sein, sagt Mama.“, erwiderte Lejla.
„Aber ich friere und bin nass. Wenn ich nicht hineinkomme, dann werde ich doch erst krank.“
„Wieso kommst du an mein Fenster und nicht an die Tür?“
Der weiße Mann kam mit seinem Gesicht näher an die Scheibe und seine Stimme wurde leiser. „Du bist ein kluges, kleines Mädchen.“, sprach er zu ihr. „Die Nachricht von deinem Papa ist nur für dich, kein anderer darf sie hören. Wenn ich an der Tür klopfte, dann müsste ich wohl erklären, was ich von dir will und ich müsste das Versprechen, das ich deinem Papa gab, brechen.“
Das Misstrauen wich aus den Augen des Kindes und Freude leuchtete in ihnen. „Ein Versprechen?“
Der weiße Mann nickte. „Was für ein Versprechen?“, fragte sie aufgeregt. Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden, dennoch schien der weiße Mann sie zu verstehen. „Ich verrate es dir, keine Sorge. Aber erst musst die Tür aufmachen.“ Lejla machte ein trauriges Gesicht und trat einen Schritt vom Fenster zurück. „Ich darf nicht, sonst schimpft Mama.“, sagte sie enttäuscht. „Vielleicht bist du krank.“ Der weiße Mann schien kurz böse zu werden, denn seine Züge zuckten und wurden hart, doch dann wurde sein Gesicht wieder lieb und freundlich. Er wandte den Blick von dem kleinen Mädchen und schien sich im Raum umzusehen. „Es ist dunkel bei dir.“, griff er ihre Unterhaltung schließlich wieder auf. „Hast du keine Angst bei dem Gewitter?“, fragte er sie und sah ihr wieder in die Augen. Das Kind schwieg, umklammerte aber mit beiden Händen den Kragen ihres Hemdes. „Du hast Angst.“, stellte der weiße Mann fest. „Auf dem Nachttisch steht doch eine Kerze, wieso hast du die nicht angezündet?“, kam die nächste Frage, doch wieder blieb sie ihm die Antwort schuldig. „Ich kann einen Zaubertrick, mit dem ich deine Kerze anzünden kann, soll ich ihn dir zeigen?“
Sie nickte knapp und trat wieder an das Fenster, drückte ihre Nase gegen die Scheibe und beobachtete gespannt was geschah. Der weiße Mann zeigte ihr seine offenen Hände, die in schwarze Handschuhe gehüllt waren und wedelte kurz mit seinen Fingern um zu zeigen, dass er tatsächlich nichts in der Hand hielt. Dann murmelte er geheimnisvoll „Abrakadabra.“ und klatschte einmal laut. Plötzlich brannte zwischen seinen Händen eine kleine flackernde Flamme, die sogar den dicken Regentropfen zu trotzen vermochte. Lejla machte große Augen. „Wie hast du das gemacht?“, wollte sie von dem weißen Mann wissen, aber er schüttelte nur erneut den Kopf, auch wenn das freundliche Lächeln nicht von seinen Zügen wich. „Wenn du mich hinein lässt, dann zünde ich dir deine Kerze an und verrate dir, wie der Trick geht.“, versprach er ihr mit süßer Stimme. „Du brauchst keine Angst vor mir haben, dein Papa hat mich doch geschickt.“ Das Kind war unschlüssig und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Zum einen wollte sie unbedingt das Geheimnis wissen und wenn die Kerze wieder brennen würde, wäre das auch nicht schlecht, aber zum anderen kannte sie den weißen Mann nicht und Mama hatte es ihr verboten. In ihrem kleinen Kopf arbeitete es. Sie wägte das größere Übel ab, war zerrissen zwischen Neugierde und Gehorsam. Schließlich entschied sie sich.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich darf nicht, Mama hat gesagt...“
Das Glas splitterte und die Hand des weißen Mannes fuhr mit einem Ruck in den Raum, packte sie grob an ihrem Kragen und riss sie in die Höhe. Lejla schrie panisch auf und begann wie wild zu strampeln und mit ihren kleinen Fäusten um sich zu schlagen, aber der weiße Mann beachtete es gar nicht. „So viel also zum Anstand!“, zischte er böse und seine Worte klangen überhaupt nicht mehr süß, sondern giftig wie ein Schlangenbiss. Das Mädchen, das in seinem Griff baumelte wie ein Spielzeug begann zu weinen. „Mama!“, schrie sie vor Angst. „Mama!“
Das Gesicht des weißen Mannes hatte jede Freundlichkeit verloren, seine Augen hatten angefangen zu brennen. Rot und gemein starrten sie sie durchdringend an. Seine Züge waren verzerrt vor Zorn und sahen furchteinflößend aus. Lejla konnte ihn nicht ansehen. Sie konnte es nicht. Sie weinte und schrie, aber es half nichts. Mama kam nicht. Der Wind brach durch das Fenster, heulte laut auf und schleuderte Regen in den Raum. Die schwarzen Haaren des weißen Mannes wirbelten um seinen Kopf, schlugen ihr wie Peitschen ins Gesicht. Mama! Mama wo bist du?
Mit einem einzigen lauten Knall schlugen mehrere Türen im Haus zu, zugeworfen von den jammernden Böen, die durch die Räume jagten. Ohne sie loszulassen schritt der Mann hinaus aus dem Regen und hinein in den dunklen Raum. Seine Augen leuchteten wie verfluchte Rubine in der Finsternis. Lejla schloss die Augen! Sie wollte ihn nicht ansehen! Der weiße Mann! Der weiße Mann kam sie holen!
Sie hörte Schreie im Haus, verzweifelt und flehend. Sie hörte Mama! Sie hörte Mama schreien! Aber Mama kam nicht.
Mama, Hilfe!
Tereza erwachte. Mit einem Schreck wurde sie aus einem unheilvollen Traum gerissen. War eben ein Fenster gesprungen? Vor ihr kräuselte sich der Rauch einer erloschenen Duftkerze, die noch immer einen intensiven Duft verströmte. Schon verblassten die Bilder ihres Traumes und sie vermochte sich nicht mehr zu erinnern, was geschehen war, weshalb er so unheilvoll gewesen war, so furchtbar. Schrecklich war er, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie wusste nicht mehr, weshalb. In dem Raum war es finster und kalt. Sie war am Esstisch auf einem Stuhl eingeschlafen, kurz nachdem sie ihre Tochter ins Bett gebracht hatte. Sie war ja immer so müde und erschöpft in letzter Zeit. Durch die dicken, roten Vorhänge konnte sie hören, wie der Sturm den Regen gegen ihre Fenster und auf die Straße spie. In der Schwärze vor ihren Augen tanzten bunte Kreise, Überreste des Schlafs, die nicht weichen wollten. Sie tastete im Dunkeln nach den Streichhölzern, um die Kerze wieder zu entzünden, aber sie fand sie nicht. Sie seufzte matt. Sie sollte ins Bett gehen, schlafen, sich erholen. Sie wollte so dringend raus aus dieser verfluchten Stadt, aus diesem verfluchten Land! Wenn sie ihre Tochter schützen wollte, dann musste sie fliehen, ehe der Tod auch sie holte. Knarzend schob sie den Stuhl zurück und erhob sich vom Tisch. Schlaftrunken rieb sie sich die Arme. Es war kalt und ihr fröstelte. Sie freute sich auf ihr Bett. Vielleicht sollte sie sich zu ihrer Tochter legen. Das arme Kind war bestimmt immer noch hellwach aus Furcht vor dem Gewitter. Tereza musste unwillkürlich lächeln. Um was Kinder sich doch noch sorgten. Um Monster im Schrank, bösen Männern vorm Fenster und dem Donner eines Sturms. Gerne hätte auch sie wieder Angst vor dem Gewitter und würde dafür ihre anderen Sorgen los sein.
Ihr Mann war an der Pest gestorben, vor mehreren Wochen schon hatte sie mit ansehen müssen, wie sein lebloser Körper auf einem der Karren in das Pestviertel der Stadt gebracht worden war. Der Verlust hatte sie schwer mitgenommen, lange Tage und Nächte hatte sie einsam in ihrem Bett gelegen und geweint, ehe sie es vermocht hatte, sich wieder aufzurappeln. Sie hatte es noch nicht übers Herz gebracht ihrer Tochter zu sagen, dass sie ihren Vater nie wieder sehen konnte, auch wenn das Mädchen es sich vielleicht schon selbst dachte. Sie war ein recht aufgewecktes Kind für ihr Alter. Vor ein paar Tagen war schließlich auch das Kindermädchen erkrankt und fortan musste Tereza sich alleine um Haus und Kind kümmern. Ihre Ersparnisse waren bald aufgebraucht und ohnehin wollte sie hier nicht länger bleiben als notwendig. In drei Tagen würden sie mit einem Freund und seinem Gespann die Stadt verlassen. Richtung Nuln, vorerst. Endlich wären sie in Sicherheit. Sie hielt es hier kaum einen Tag länger aus. Es war entsetzlich. All' das Sterben, der Tod, das Verderben. Sie hatte aus anderen Städten gehört, dass kurz nach dem Auftauchen der Pest, die Toten in die Stadt kamen, um die Leichen mitzunehmen. Unglaublich, dass nach so langer Zeit die Toten wieder in Sylvania wandelten. Sie hasste dieses verfluchte Land. Konnten die unheiligen Kreaturen denn nie Ruhe geben?
Eine dunkle Ahnung stieg in ihr empor, Bilder aus dem Alptraum, der sie hatte aufschrecken lassen. Finstere Visionen. Sie versuchte sie beiseite zu wischen, aber Angst schlang sich wie eine eiskalte Kette um ihre Gedanken. Sie sah in Bildern, wie jemand in das Zimmer ihrer Tochter einbrach, das Fenster zerschlug und sie...
Im Haus zerbrach ein Fenster.
Terezas Herz setzte einen Schlag lang aus. Im selben Augenblick schrie ihre Tochter Lejla vor Angst auf. Sigmar, nein! Ihre Augen weiteten sich furchterfüllt. Kurz war sie wie gelähmt, konnte sich nicht von der Stelle rühren, hörte nur das Schreien ihrer kleinen Tochter, das ihren Kopf ausfüllte. Dann wirbelte sie herum und rannte vom Entsetzen getrieben los. Sigmar, nein! Sigmar! In größter Hast erklomm sie die Stufen zum zweiten Stock, dem Stockwerk in dem ihre Tochter ihr Zimmer hatte, strauchelte zwei mal und stürzte beinahe. Schließlich hatte sie es geschafft, hechtete um die Ecke, schrie Lejlas Namen, aber der Schrei wurde ihr von einem Windstoß von den Lippen gerissen. Die offenen Türen im Haus wurden vom Zug mit einem ohrenbetäubenden Knall zugeschmissen. So hart war der Schlag, dass Tereza beinahe das Gleichgewicht verlor. Mit größter Mühe blieb sie auf den Füßen, rannte den Flur entlang und warf sich mit aller Macht gegen die Tür zum Zimmer ihrer Tochter! Einmal! Zweimal! Nichts tat sich. Ihre Schulter schmerzte, doch sie schien nichts ausrichten zu können! Dreimal! Nicht der Wind versperrte diese Tür! Sie hörte, wie Lejla nach ihr schrie. Es trieb ihr verzweifelte Tränen in die Augen. „Ich bin hier, Kleines!“, schrie sie qualvoll auf und begann zu weinen „Mama ist doch da!“ Das Beben in ihrer Stimme strafte sie lügen. „Hab keine Angst, mein Kleines! Mama ist da! Alles wird gut!“
Mit ihrer Faust hämmerte sie gegen die Tür, warf sich noch so oft dagegen bis sie die Schmerzen nicht mehr ertrug. „Sigmar!“, heulte sie. „Sigmar, rette sie!“
Doch Sigmar kam nicht. Schluchzend brach Tereza an der Tür zusammen. Sigmar? Sigmar wo bist du? Sie weinte hemmungslos, schlug nur noch kraftlos gegen die Tür und winselte hilflos vor sich. „Sigmar, rette meine Kleine.“, flehte sie. Aber Sigmar kam nicht. Endlos lange schien sie zu warten, ohne das etwas geschah. Endlos langsam verstrichen die Augenblicke. Schließlich, als sie bereits jeden Kampfeswillen hatte fahren lassen, öffnete sich die Tür wie von selbst und Tereza sackte kraftlos zusammen. Sie hörte schwere Schritte, die Dielen ächzten, dann sah sie ein Paar schwarzer Lederstiefel. Blut tropfte auf den Boden. Sie wagte es nicht aufzusehen, wagte nicht zu sehen, welcher Schrecken da gekommen war.
„Ich bringe dir dein Kind.“, erklang eine honigsüße Stimme über ihr, doch zu gleich so falsch und böse, dass ihr allein von dem Klang schlecht wurde. „Ein wahrlich prachtvolles Mädchen.“ Ein letzter Schimmer Hoffnung regte sich in der Brust der verzweifelten Mutter. Ihre Kleine? Lebte sie? Matt hob sie den Kopf, um zu sehen, wer da zu ihr sprach und ob er ihr wirklich ihr Kind brachte.
Ihr Herz setzte schmerzhaft aus, ihr stockte der Atem. Entsetzt riss sie die Augen auf, versuchte Luft zu holen, aber kaltes Entsetzen schnürte ihr die Brust zu! Nein! Nein, oh Sigmar, Herr! Das durfte nicht sein! Ungläubige Tränen brannten in ihren geweiteten Augen. Sie riss sich von dem Anblick los, schrie gepeinigt auf, barg das Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos. Ihre Tochter baumelte weiß wie Kalkstein in den Händen des Mannes, die Augen ohne jeden Glanz von Leben, das Gesicht eingefallen und ausgemergelt. Sie wollte es nicht sehen, wollte nicht noch einmal hinsehen, aber sie konnte es nicht fassen, konnte es nicht wahrhaben. Es war, als bewegte jemand anders ihren Kopf, zwang sie, dieses Bild des Grauens erneut zu betrachten.
Sie erkannte das Gesicht des Mannes. Es war Slawa von Carstein, Fürst und Herrscher über dieses Land, derjenige, der sie eigentlich vor Ungeheuern und Räubern beschützen sollte. Der Wolf im Schafspelz. Der Fürst hatte Lejlas Haare umschlungen, hob sie in die Höhe und ließ sie wie einen Sack baumeln. Ihr Nachthemd war bedeckt von ihrem Blut. Ihr Blut! Das Blut ihrer kleinen Tochter. Erneut musste Tereza schluchzen, Tränen verschleierten ihre Sicht. „Sigmar“, hauchte sie mit heiserer Stimme. „Sigmar, wieso?“
Sie wollte den Blick abwenden, aber der Fürst ließ die Leiche Lejlas achtlos auf den Boden fallen, kniete nieder und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Er hielt ihr Kinn in einem eisernen Griff, sie konnte sich nicht wehren, obgleich sie es versuchte. Sein Gesicht war weiß wie das ihres Kindes, aber auf seinen Wangen lag ein rosiger Schimmer. Seine Augen leuchteten wie alles verzehrendes Feuer, beinahe schien ihr die Hitze ins Gesicht zu schlagen. So sehr es sie auch ekelte, sie konnte nicht abhin, ihn attraktiv zu finden, irgendwie begann er sie anzuziehen. Von seinem Kinn troff dunkelrot das Blut ihrer kleinen Tochter. Es befleckte sein Gesicht und seine Kleider. Es klebte überall an ihm. Der Gestank von Eisen kroch ihr in die Nase. All' ihr Blut... so viel Blut.
„Ich bin Sigmar.“, sprach er und seine Augen glühten noch intensiver, zwangen ihren Blick hinein in ihre lodernden Tiefen. Seine Stimme schien von den Wänden widerzuhallen, schien überall zu sein, überall im Raum, in ihrem Kopf...
„Ich bin das Böse und ich bin der Tod. Ich bin deine Verzweiflung und dein Leiden. Und vernehme meine Worte, so wie dir wird es jeder Mutter dieser Welt ergehen. Ich bin das Böse. Und ich bin alles was ist.“ Ein nahezu mitfühlendes Lächeln kräuselte sich um seine vom Blut dunkelroten Lippen. „Ich bin Sigmar. Ich nehme mich deiner Seele an! Ziehe ein in meine Hallen!“
Nein! Etwas bäumte sich in ihr auf! Sie wollte dieses Monstrum bestrafen, wollte ihn schlagen, ihn anschreien! Ja, sie wollte ihn umbringen! Vernichten! Diese gottlose Bestie! Dieser Verräter! Der Fürst, der sie hätte beschützen sollen wurde ihrer aller Untergang! Sie musste jemanden warnen, sie... Sie versuchte sich aus seinem Griff zu winden, warf sich mit aller Kraft gegen seine Umklammerung. Sie würde ihn umbringen! Sie würde...
Der Kopf des Fürsten zuckte nach vorne. Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Hals, dann spürte sie wallende Wärme auf ihrer Brust. Allmählich wurde ihr kalt. Angenehm kalt. Immer kälter und kälter, bis sie nichts anderes mehr fühlte als wohlig ermüdende Kälte. Und schließlich färbte sich die Decke über ihr schwarz.
Slawa biss in den Hals der Frau, riss mit scharfen Zähnen ihren Kehlkopf heraus, spuckte ihn aus und ließ den Schwall des köstlichen Blutes in seinen weit geöffneten Mund schwappen. Gierig schluckte er hinunter so viel er konnte. Der Strom spritzte ihm ins Gesicht, lief ihm übers Kinn, über die Brust, benetzte den bebenden Busen der Sterbenden, die in seinen Armen gerade ihre letzten Todeszuckungen durchlitt, bildete eine Lache auf dem Boden und sickerte in die Ritzen zwischen den Dielen. Es besudelte alles, füllte seinen Verstand ganz aus.
Fressen!
Sein totes Herz hämmerte aufgeregt, als er mehr und mehr des süßen Saftes in sich aufnahm. Die Frau schmeckte vorzüglich! Sie hatte ein gutes Alter, war von ansehnlichem Wuchs gewesen und hatte kurz vor ihrem Ende schreckliche Qualen gelitten. Besser konnte es kaum sein. Durch die klaffende Wunde floss das Blut der Frau in nur wenigen Augenblicken hinaus. Gierig leckte der Vampir noch die zerfledderten Wundränder ab, ehe er von der Leiche abließ und sich erhob. Über und über in das duftende Rot gekleidet, nahm er sich die Zeit, ein blütenweißes Spitzentaschentuch aus seiner Brusttasche zu ziehen, das dem Schwall des Adersaftes mehr oder minder entgangen war und tupfte sich mit spitzen Fingern den Mund sauber. Als es dunkelrot durchtränkt war, warf er es auf den Boden und rieb sich kurz die Hände, bevor er einmal sein Kreuz durchstreckte und laut schmatzte. Was für ein köstliches Mahl! Eine gelungene und amüsante Ablenkung von der Arbeit, wie er fand. Er hatte einen großen Teil seiner verlorenen Kraft zurückgewonnen und würde sich für heute zurück zum Schloss begeben können, um ein wenig zu ruhen. Morgen dann konnte er sein finsteres Werk fortsetzen.
Er bückte sich, griff nach den Haaren der beiden Leichen und zerrte sie hinter sich über den Boden. Ihre schlaffen, leblosen Körper fühlten sich in seinem Griff an wie große Puppen. Mit einem leichten Satz sprang er aus dem Raum zurück auf den Balkon und augenblicklich schlugen ihm Regen und Wind ins Gesicht, zerrten an Mantel und Haaren. Spielerisch hob er die Körper seiner Opfer so hoch er konnte, präsentierte sie der Nacht wie eine Trophäe und lachte hämisch und dunkel. Erneut griff der Wind nach dem unheilvollen Klang seiner Stimme, trug sie weit, um die Saat der Angst in den furchtsamen Herzen der Menschen zu pflanzen. Slawa wartete noch einen kurzen Augenblick, fühlte, wie die Leichen im Sturm in seinen Händen baumelten, dann schleuderte er sie eine nach der anderen mit viel Wucht auf die Straße vor dem Haus. Noch auf dem Balkon hörte er das Splittern der Knochen. Sie würden keine guten Diener abgeben, aber seine Leichenkarren würden sie dennoch aufladen. Ein böses, zufriedenes Grinsen zierte sein Gesicht und noch eine Weile betrachtete er die zerschmetterten Leiber. Schließlich hob sich sein Blick.
Entlegen, am Rande der Stadt sah er die großen Feuer des Pestviertels lodern, die im Regen gewaltige Rauchsäulen bilden und nach dem Nachthimmel langten. Bis hier hin stank es süßlich nach verbranntem Fleisch. Die leckenden Flammen spiegelten den Wahn in seinen Augen wieder.
Slawa von Carstein, Herr aller Menschen!
Gewiss, er würde der Größte und Mächtigste der von Carsteins werden, denn er würde der sein, der endlich Erfolg hätte, der erste Vampir, der endgültig das verdammte Imperium niederwarf! Schon jetzt hatte er so viele Leichen gesammelt, um sein Heer größer als die seiner Vorgänger werden zu lassen und auch wenn er kein Kämpfer sein mochte, seine nekromantische Macht überstieg alles, was vor ihm gekommen war. Nichts würde ihn aufhalten können, nichts!
Doch in seiner Euphorie zeigte sich ein dünner Schleier des Missfallens und seine Züge bekamen einen zornigen Ausdruck, als der Regen auch den letzten Rest Blut von ihnen gewaschen hatte. Eines fehlte ihm. Nur eines fehlte ihm! Zur absoluten Unbezwingbarkeit und grenzenloser Macht! Ein einziges, uraltes Relikt, was seit Jahrtausenden durch die Familie der von Carsteins geisterte. Jeder große Fürst hatte es besessen und von ihm die Macht verliehen bekommen, immer und immer wieder zurück zu kehren, wahrhaft unsterblich zu werden, die Königreiche der Menschen zu verfluchen und heimzusuchen. Jeder von ihnen hatte es besessen! Er mochte der mächtigste der Vampire sein, die Sylvanien je unterjocht hatten, aber er war auch der einzige seiner Linie, dem dieses Artefakt fehlte. Und es lag wie ein Fluch auf seinem Gemüt. Wie eine hässliche Narbe klaffte es in seinem Triumph.
Ihm fehlte der Carsteinring!