Da wir so lange Pause hatten, mach ich mal weiter. Es wäre schön, wenn sich auch die anderen Leser mal wieder mit konstruktiver Kritik melden würden. Oder sich überhaupt melden würden, das reicht schon.
Der Altar
Altar der Absoluten Dunkelheit; westliches Naggaroth
2567 IC; 7. Abnehmender Mond
Sisrall hatte Kopfschmerzen, als er am nächsten Morgen langsam wieder zu sich kam. Die Sonne des Frostlands schien ausnahmsweise einmal warm vom Himmel herab und wärmte seinen Körper in der schwarzen Rüstung. Doch die Wärme machte ihn träge und er blieb liegen. Voller Wonne dachte er an die Ereignisse der Nacht. Es war wundervoll mit Viverla’atar gewesen. Doch etwas störte ihn, aber er konnte nicht genau sagen, was. Vielleicht, überlegte er, war es diese Passivität seiner Geliebten. Sie hatte sich von ihm liebkosen lassen und dann hatte er die ganze Zeit oben gelegen. Es hatte Spaß gemacht, aber ihm fehlte irgendetwas bei ihrem Liebesspiel. Er nahm sich vor, mit ihr darüber zu reden. Aber vorerst, so musste er sich eingestehen, brannte seine Liebe für Viverla’atar nicht ganz so heiß, wie noch am vergangenen Tag.
Trotzdem entlockte ihm der Gedanke an ihrem warmen Körper unter ihm ein zufriedenes Grinsen. Sie war wirklich wärmer gewesen, als es die Sonne je sein würde. Plötzlich war er hellwach. Die Sonne? Ich liege doch in einem Zelt, oder nicht?
Er schlug die Augen auf und musste feststellen, dass er genau das nicht tat. Die kleinen Steine unter seinem Rücken, die ihm erst jetzt auffielen, verrieten, dass er sich wohl irgendwo im Gebirge befand, aber nicht mehr im Lager des Stammes. Er versuchte, sich aufzusetzen, bis ihm klar wurde, dass seine Hände über dem Bauch gefesselt und an seinen Körper gebunden worden waren.
„Ah, er ist wach. Das ist gut, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“, sprach eine Stimme neben ihm, dann wurde er von kräftigen Händen gepackt und auf die Füße gestellt. Nun bemerkte er auch seinen Helm, den er trug. Noch merkwürdiger war die Tatsache, dass er voll bewaffnet war. An der Hüfte baumelten die Schwerter, die er am vergangenen Tag von Viverla’atar erhalten hatte und in seinen Armschienen steckte Wurfmesser. Sogar der schwarze Umhang mit den blutroten Verzierungen hing von seinen Schultern.
Jemand musste seine Blicke bemerkt haben, denn eine Gestalt trat in sein Blickfeld. Es war Tar’atris und seine Miene war dunkel vor Zorn. Aber er sprach beherrscht. „Ihr wundert Euch, dass Ihr Eure Waffen tragt, nicht wahr? Nun es ist Tradition und Brauch, den Opfern für den Altar der Absoluten Dunkelheit bewaffnet ihren letzten Weg antreten zu lassen. Und nun setzt Euch in Bewegung.“
Sisrall bekam einen Stoß in den Rücken und taumelte vorwärts. Er konnte eine Schwertspitze in seinem Rücken fühlen und gehorchte wiederstrebend. Dabei musste er feststellen, dass er nur kleine Schritte machen konnte, da seine Beine durch ein kurzes Seil verbunden waren. So wurde wirkungsvoll verhindert, dass er einfach wegrannte. Mit diesen kurzen Schritten würde keinem Verfolger entkommen.
„Warum wollt Ihr mich opfern? Ich habe getan, was Ihr von mir verlangt habt. Der andere Stamm ist ausgelöscht, oder nicht?“
„Ruhe!“, klang eine Stimme von hinten und er bekam einen Schlag auf den Hinterkopf, doch Tar’atris wollte offenbar reden. Vielleicht, überlegte Sisrall, um ihm seine Überlegenheit zu demonstrieren.
„Ja, Blutklinge, Ihr habt getan, was ich verlangte. Doch das Wie ist entscheidend. Von den einhundert Kämpfern, die wir aussandten, kamen gerade einmal zwanzig zurück.“
„Das gehört zum Krieg dazu. Es war Euer Konflikt. Ich habe…“
„Ja, ich weiß!“ Er klang erbost. „Aber das ist nicht alles. Tut nicht so unschuldig! Ich habe nur noch einen Erben. Ihr habt meine beiden Söhne getötet und auch Grumir erschlagen. Damit habt Ihr dem Stamm drei seiner besten Krieger genommen. Und zu guter Letzt habt Ihr auch noch meine Tochter verführt. Wollt Ihr meinen Platz, als Häuptling?“
„Was sollte ich mit eurem Stuhl? Warum sollte mir etwas an der Herrschaft über diesen dreckigen Stamm liegen? Ich werde mich vor Euch nicht rechtfertigen, Tar’atris. Denn keines meiner Worte würde Euch überzeugen, dass mich keine Schuld trifft. Ihr seid ein alter, sturer Bock, zu verklemmt mit Euren Traditionen und Regeln. Sind diese Kinder, von denen ich zwei erschlagen habe, auch aus einer Beziehung entstanden, die von Eurem Vater beschlossen wurde? Ihr versteht nichts von Liebe, Häuptling!“ Sisrall spukte ihm das letzte Wort förmlich entgegen. Er war wirklich wütend. Was bildet sich dieser Waschlappen eigentlich ein? Ich habe diesen Stamm für ihn bekämpft und wir haben gewonnen. Das wollte er doch. Was kann ich dafür, wenn seine Söhne meinen, sie müssten mich angreifen?
Der Häuptling sah aus, als wolle er ihn jeden Moment schlagen, hielt sich dann aber zurück und drehte sich schnaufend um. Sie setzten den Weg fort. Um seinen Zorn zu verdrängen und sich die Zeit zu vertreiben, genoss Sisrall die Landschaft, durch die sie ihn führten. Sie marschierten über einen ausgetretenen Steinweg, der sich deutlich sichtbar durch die Eisenberge schlängelte. Er verlief an den Flanken mächtiger Berge entlang und über hohe Kämme. Oftmals gab es nicht viel zu sehen. Die Bergwände raubten ihm die Sicht und die meiste Zeit befanden sie sich in deren Schatten. Ab und an jedoch, meist, wenn sie über einen Kamm marschierten, bot sich dem Tempelkrieger eine wundervolle Aussicht. Die grau-schwarzen Rücken der mächtigen Eisenberge schrumpften nach Osten langsam und gaben den Blick frei auf weite Wälder und Ebenen. Sisrall glaubte sogar, weit am Horizont das Glitzern des Trügerischen Meeres auszumachen. Dort war der Himmel mit dicken Wolken behängt und er war froh, hier die Sonne zu spüren. Im Westen erkannte er den mächtigen Stahlfrostgletscher, eine gigantische Eisschichte, die sich unaufhaltsam über die Berge schob.
Sisrall bemerkte zahlreiche Tiere, meist Gebirgsbewohner und Vögel, die ihnen scheu Platz machten, ab und an aber auch einige kleinere Lebewesen, die sie aus den Schatten der kleinen Dornenpflanzen, die den Wegesrand säumten, beobachteten. Beim Anblick ihrer neugierigen und gleichzeitig ängstlichen Gesichter fragte er sich, warum er keine Angst empfand. Und das stimmte. Weder Furcht noch Trauer beschlichen ihn. Er wusste, dass Widerstand zwecklos war und dennoch hatte er noch nicht mit dem Leben abgeschlossen. Seltsam distanziert stellte er fest, dass er momentan überhaupt nichts empfand. Er machte sich nicht einmal Sorgen um Viverla’atar. Auch sein Hass und sein Zorn waren verraucht.
Doch er hatte nicht viel Zeit, sich darüber zu wundern, denn sie erreichten offenbar ihr Ziel. Zwei mächtige grauschwarze Obelisken, die einst natürliche Felsen gewesen sein mochten, erhoben sich beiderseits des Weges und bildeten so eine Art Tor. Auf ihnen waren zahllose Zeichen eingeritzt, die anscheinend Namen bildeten. Vielleicht die Namen derer, die auf dem Altar geopfert worden waren. Weiter oben waren Bilder zu sehen, die anscheinend Rituale oder Zeremonien zeigten. Sisrall bekam keine Zeit, die näher in Augenschein zu nehmen, denn die Prozession setzte ihren Weg durch das Tor ohne ein Zögern fort.
Dahinter bot sich dem Assassinen ein beeindruckender Anblick. Hatte das Heiligtum des anderen Stammes trotz seiner Schlichtheit oder vielleicht gerade dadurch mächtig und bedeutend gewirkt, so verblasste all das zur Primitivität. Sisrall fand sich in einem vollständigen Kreis wieder. Einem Kreis aus mächtigen, unnatürlich glatten Berghängen, die finster und uralt diesen Ort bewachten. Er bemerkte noch zwei weitere Obelisken-Tore, die dem ähnelten, welches er soeben durchschritten hatte. Ihm fielen auch die elf Statuen auf, die in einem kleineren Kreis standen. Sie waren kaum größer als lebende Druchii und wohl mit einer Liebe zur Naturnähe gefertigt worden. Sie alle trugen weite Umhänge, die im nichtvorhandenen Wind zu wehen schienen, und dicke Kettenhemden oder Plattenrüstungen, deren Details atemberaubend waren. Wäre da nicht die steinerne Farbe gewesen, hätte man die Kettenhemden für echte halten können, so genau waren die Glieder gearbeitet. Und ihre Gesichter. Sie alle waren schön anzusehen mit harten und kraftvollen Zügen, die aber keineswegs überheblich wirkten. Es waren die Gesichter von sechs Frauen und fünf Männern, die ein hartes Leben geführt und es mehr als einmal mit der Waffe verteidigt hatten. Irgendwas in diesen Gesichtern verursachte eine unnatürliche Anziehungskraft in Sisrall. Er wollte zu ihnen gehören und einer von ihnen werden. Keine von den Statuen, sondern einer jener Druchii, die sie einst gewesen waren.
Doch dazu musste er erst einmal seine derzeitige Lage überwinden. Denn das Bedeutendste in diesem Kreis innerhalb der Berge lag im Zentrum. Die Blicke aller elf Statuen lagen darauf. Es war der Altar der Absoluten Dunkelheit. Und er machte seinem Namen alle Ehre. Undurchdringliche Schatten wirbelten um die acht Krallenfüße, die offenbar denen mächtiger Tiere nachempfunden waren. Er erkannte die Pranken von Nauglir und von Hydren sowie die Krallen von Adlern und Mantikoren. Einens schien auch der Fuß eines Pegasus zu sein. Sie alle stützten eine achteckige Platte, die blutverkrustet, ansonsten aber bemerkenswert schlicht war. Vom Rand der Platte gingen vier schwarze Halbbögen aus, die an ihrer höchsten Stelle in spitze Dornen übergingen.
Nun zwangen die Krieger Sisrall, zu der Plattform zu gehen. Er widersetzte sich nicht. Er wusste, dass Widerstand keinen Sinn hatte, weil es einfach zu viele waren. Als sie sich nun um die Platte innerhalb des Kreises aus Statuen formierten, sah der Assassine, dass es beinahe dreißig waren, die sich hier versammelt hatten. Einige wenige erkannte er als diejenigen, die ihm zum Lager des anderen Stammes gefolgt waren und offensichtlich auch überlebt hatten. Vier von ihnen trugen Armbrüste in den Händen. Aber auch ohne die Schützen und ohne Fesseln hätte Sisrall keine Chance in einem Kampf gehabt. So gut er auch war, es waren zu viele. Er bemerkte, dass auch Viverla’atars Schwester und ihr Partner anwesend waren und ihn mit steinerner Miene ansahen.
Er selbst ließ sich keine Regung anmerken und stieg erhobenen Hauptes auf die Platte. Er würde weder um sein Leben betteln, noch einen entwürdigenden, zwecklosen Fluchtversuch unternehmen. Er würde sterben, aber aufrecht.
Als er seinen Platz in der Mitte der Platte, den Kopf zwischen den Spitzen der Halbbögen, eingenommen hatte, trat Tar’atris vor. „Es wird hier keine Prozedur geben, Blutklinge. Ihr werdet sterben und damit gut. Der Weg hier hoch war schon mehr, als Ihr verdient habt, aber es war der letzte Wunsch meiner Tochter.“
Er redete noch eine Weile, aber die Worte drangen nur noch als inhaltloses Rauschen an Sisralls Ohren. Auf einmal waren seine Emotionen wieder da und er wäre am liebsten auf die Knie gesunken. Viverla’atar war also tot! Seine Geliebte, einfach getötet, aus seinem Leben gerissen, bevor er selbst sterben sollte. Und sie hatte gewollt, dass er hier starb. Er redete sich ein, dass sie nur die beste, ehrenvollste Todesart für ihn wollte und er so oder so gestorben wäre, doch es half nicht. Auf einmal, von einem Harzschlag auf den anderen war seine Liebe zerstört. Zerstört wahrscheinlich nur durch die schlechte Ausdrucksweise eines alten Schwätzers. Und Sisrall spürte Hass. Hass auf den Mann, der seine Liebe zerstört hatte und sie nun beide getötet hatte. Er wollte nichts mehr, als Tar’atris an seinem Schicksal teilhaben zu lassen, und seine Hände zitterten vor Wut.
Er zwang sich, ruhig zu atmen und sein Ende nicht auch noch durch eine zorngeleitete Tat zu entwürdigen. Doch eigentlich war es ihm egal. Obwohl seine warmen Gefühle für Viverla’atar verschwunden waren, sehnte er sich nach ihrer Liebe und fühlte sich unvollständig ohne sie.
Offenbar war Tar’atris zum Schluss gekommen und Sisrall wartete. Er stand aufrecht und ohne Furcht auf der Plattform. Für ihn hatte der Tod keinen Schrecken. Er war so erzogen worden und selbst die grässliche Erfahrung, die er nach dem Duell mit Drrochaal gemacht hatte, erzeugte keine Angst vor dem Kommenden in ihm.
Tar’atris hob nun den Stab, den Sisrall als den Schlüssel zu den beiden Heiligtümern erkannte, und schlug mit ihm gegen jede der acht Kanten der Plattform. Es geschah zuerst nichts. Dann verspürte Sisrall die Kraft der Magie, die sich in dem Ring sammelte. Sie flog um ihn herum und ließ die Schatten zwischen Füßen der Platte wirbeln. Sie verdichteten sich und breitete sich aus. Einige berührten zaghaft seine Füße und er spürte die beißende Kälte. Die meisten der pechschwarzen, undurchdringlichen Wolken strebten auf die vier Halbbögen zu und kletterten an diesen empor.
Als sie schließlich die dornartigen Spitzen erreichten, passierte alles innerhalb eines Augenblickes. Tar’atris stieß mit dem Stab nach Sisralls Brust und die Schatten schossen aus den Dornen, die nur wenige Handbreit von Sisralls Kopf entfernt hingen. Sie bildeten einen Wirbel aus Dunkelheit und Kälte. Sie krochen durch seine Rüstung und flossen durch seine Adern. Sie ließen sein Blut erstarren und verwandelten seinen Körper in lebloses Fleisch. Dann waren sie in seinem Kopf und bevor Sisrall wusste, was geschah, bevor er auch nur die alles verzehrende Kälte spürte, war es auch schon vorbei.
Ich bin tot. Tot wie meine Geliebte. Trotz der entsetzlichen Botschaft seiner Gedanken fühlte Sisrall keine Regung. Er war so kalt wie die Schatten des Altars geworden. Doch da war eine Flamme in ihm. Ein Feuer des Lebens. Er konzentrierte sich auf die kleine Flamme und nährte sie mit seiner Kraft. Angenehme Wärme durchströmte ihn und er erkannte sie als das Geschenk des Flammenbrunnens. Die Schatten zuckten vor dem Licht der Flammen zurück, doch sie ließen sich nicht vertreiben. Er gehörte ihnen und sie würden ihn nicht mehr hergeben. Die Kälte kehrte in ihn zurück, doch sein Herz blieb warm. Dort brannte das Feuer seiner Kraft, die Flamme seines Lebens.
Es war wie ein Kampf. Feuer gegen Kälte. Licht gegen Schatten. Tod gegen Leben. Wenn die Flamme verlosch, würde er in die Finsternis fallen und seine Seele würde verloren gehen. Während in ihm ein Kampf tobte, war es um ihn herum friedlich. Dort gab es nur Schatten und Kälte. Oder? Nein, dort war auch Leben. Er konnte sie spüren. Dreizehn Gestalten beobachteten ihn. Er glaubte, Gesichter zu erahnen. Die Gesichter der Statuen, die um den Altar gestanden hatten. Sie hingen dort in der Dunkelheit, von einem inneren, schwachen Schein erleuchtet. Sie verschwammen und verblassten, kehrten wieder und wurden undeutlich, doch nie verschwanden sie. Immer waren sie bei ihm und beobachteten seinen Kampf. Zwei der Gesichter blieben ihm verborgen, aber wusste, dass sie da waren, vertraut und doch unbekannt, voller Liebe und doch distanziert, nah an seinem Herzen und doch weit entfernt. Über alledem war eine andere Identität. Ohne Gesicht und ohne Stimme. Sie war wie ein Vater, der seine Kinder beim Spielen beobachtet. So mächtig und fremdartig, dass Sisrall sie nicht verstehen konnte. Er konnte ihre Wärme spüren, die ihm und den anderen Gesichtern galt und den Hass, den Hass gegen alles, das ihnen schaden könnte.
Er fragte sich, ob diese Gesichter Gestalten der Finsternis gehörten, die seine Seele fressen würden, doch der Gedanke verflog schnell wieder. Sie waren seinetwegen hier. Sie waren hier, um ihm zu helfen. Sie würden ihm Rat geben. Doch diesen Kampf musste er allein bestehen. Sein Herz brannte hell und heiß und sein Geist war kalt und dunkel. Um zu überleben musste er die Schatten besiegen, der Kälte entkommen, denn nichts konnte dort leben.
Die Gesichter lächelten ihn an. Sie hingen in der Dunkelheit, deren Kälte ihn zu verzehren drohte. Sie lebten. Es waren keine seelenlosen Gesichter. Ihre Augen leuchteten voller Kraft und Vitalität. Sie waren hier im Reich des Todes und lebten. Das bedeutete, dass die Schatten nicht zwangsläufig der Tod waren.
Wäre er nicht im Reich der Schatten gewesen, hätte Sisrall nun wohl Luft geholt, bevor er den entscheidenden Schritt tat. Er wehrte sich nicht länger und ließ dich Schatten in sich ein. Sie kamen diesmal zaghafter, fast vorsichtig. Sie hatten das Licht und die Hitze seines Herzens, seiner Kraft gespürt und zu fürchten gelernt. Sie hatten Respekt gelernt. Sie streichelten ihn mit angenehmer Kühle, nicht mit verzehrender Kälte. Sie strichen um die Flamme in ihm, kamen ihr aber nicht zu nahe und glichen ihre Hitze mit ihrer kühlen Berührung aus. Nun begriff Sisrall, dass der Kampf ein Fehler war. Er wäre in jeden Fall gestorben. Hätte er die Kälte der Schatten zurück gedrängt, hätte ihn das Feuer verzehrt. Das hatte er schon vorher gespürt. Damals, als er Grumir in Asche verwandelt hatte, hatte das Geschenk es Flammenbrunnens ihn beinahe verbraucht. Er hatte seine gesamten Kräfte erschöpft, um es zu verhindern.
Aber nun war er in Sicherheit. Die Schatten glichen die Hitze und das blendende Licht der Flammen aus und wurden ihrerseits vom Feuer in Schach gehalten. Keine der beiden Kräfte würde die Überhand gewinnen und ihn verzehren können. Sie hatten ein Gleichgewicht gefunden. Sein Herz brannte hell und warm, doch sein Geist war von Kälte erfüllt.
Da der Kampf vorbei war, regten sich die Gesichter. Sie lächelten und nickten ihm zu. Sie wurden klarer und die Schatten fielen von ihnen, wie Wasser von der Haut perlt. Und noch mehr tauchte aus der Finsternis auf. Erst die Körper der Gesichter. Sie trugen allesamt Rüstung. Sisrall erkannte die elf als die Statuen, die um den Altar standen. Sie streckten die Arme aus und berührten ihn freundlich. Dann löste sich die Umgebung aus den Schatten.
Der Assassine fand sich in einer Halle aus schwarzem Marmor wieder. Elegante Säulen schienen eine unsichtbare Decke zu tragen, doch sie schwebten selbst einige Handbreit über dem spiegelglatten Boden. Dieser zeigte grässliche Szenen, riesige, blutige Schlachten und Folterungen von verschiedensten Lebewesen. Einige schienen sogar dämonisch zu sein. Und es waren keine Bilder! Die Abbildungen waren lebendig, bewegt, aber stumm. Es war wie ein Blick durch dickes Glas. Dann stellte Sisrall fest, dass es keine Wände gab. Zuerst hatte er vermutet, sie wären noch nicht aus dem Dunkel aufgetaucht, doch inzwischen war schon eine große Fläche Marmorboden mit den Säulen enthüllt worden und von Wänden gab es keine Spuren. Aber es gab Feuer. Zwischen den Pfeilern schwebten Kohlebecken und einzelne Fackeln über ihren Köpfen. Doch die Kohlebecken hingen auf dem Kopf und die Flammen züngelten nach unten.
Insgesamt erinnerte es Sisrall an ihn selbst, wie er nun war. Im Herzen Feuer, Wärme und Licht und darum Schatten, Dunkelheit und Kälte. Vielleicht fühlte er sich deshalb so wohl hier, obgleich es offensichtlich kein Ort für Sterbliche war. Natürlich stellt sich immer noch die Frage, wo hier ist. Und was ich hier soll.
Die Druchii, deren Gesichter ihn vorhin beobachtet hatten, führten ihn nun ins Zentrum dieses seltsamen Ortes. Dort, in einem Kreis aus Blut, das sich offenbar aus dem Nichts von oben ergoss, stand ein Thron aus Knochen auf einem Podest aus Schädeln. Die Knochen waren rußgeschwärzt und in den Augenhöhlen der Schädel brannten blaue und rote Flammen. Es war der Schädelthron, den er schon damals in der Dunkelheit vor dem Erwachen in Viverla’atars Zelt gesehen hatte. Doch dieses Mal war er nicht leer. Eine Frau saß darauf. Sie war klein und zierlich, wirkte nicht sonderlich kräftig und wies auch keinerlei Zeichen eines harten Lebens auf. Doch sie war unwiderstehlich schön. Durch das Gewand, das, wie es schien, aus Schatten bestand, die über ihren Körper glitten, schimmerte ihre violett-blasse Haut hindurch. Ihr Haar wallte in schwarzen Wogen auf ihre Schultern und in ihren orangeroten Augen lag ein Feuer, wie Sisrall es noch nie zuvor gesehen hatte. Ihre sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln. Auch sie schien Feuer und Schatten zu vereinen.
Zuerst merkte Sisrall überhaupt nicht, dass sich die anderen vor ihr verneigte hatten, und als er ihrem Beispiel folgte und sich auf die Knie niederließ, konnte er kaum den Blick von ihr wenden. Ihr Anblick ließ die Erinnerung an Viverla’atar verblassen. Als er wieder stand, fielen ihm die beiden Elfen links des Throns auf. Es waren ein Mann in der Robe eines Assassinen und eine Frau in einem roten Umhang. Sie wirkte auf den ersten Blick wie eine mächtige Zauberin. Von diesen beiden ging das Gefühl der Vertrautheit und der Liebe aus, das er sich nicht erklären konnte. Doch nun war die Ahnung einer väterlichen und wohlwollenden, schützenden Macht stärker als zuvor. Und ihre Quelle war eindeutig die Frau auf dem Thron.
Sie lächelte ihn an und er fühlte eine angenehme Wärme. Doch es war weder Liebe noch Begierde. Er fühlte sich sicher und geborgen. So etwas hatte er noch nie empfunden. Nicht einmal, als er in Viverla’atars Armen gelegen hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, schließlich war er ja eher unfreiwillig hierher gekommen.
Die Frau musterte ihn und Sisrall genoss ihre Aufmerksamkeit. Dann nickte sie. Sie sprach leise und war doch unüberhörbar. Sisrall wollte sich keines ihrer Worte entgehen lassen. „Nun bist du also hier, Blutklinge. Ich freue mich, dir endlich zu begegnen. Lange Zeit habe ich dich beobachtet und mir hat gefallen, was ich sah.“ Sie wies auf eine Stelle im Boden und Sisrall sah dorthin. Er erkannte den Altar der Absoluten Dunkelheit. Die Statuen bildeten einen Kreis und zwischen ihnen standen die Krieger Tar’atris‘. Auf der Platte erhob sich ein schwarzer Wirbel, in dem er seinen eigenen Körper erahnte. Offenbar war die Zeit eingefroren, denn nichts bewegte sich.
Da die Frau schwieg, war es nun an Sisrall, zu sprechen. „Wer seid Ihr? Und was mache ich hier?“
Sie blickte ihn an und legte den Kopf schief. „Ich glaube, du weißt schon, wer ich bin.“
Das stimmte, obwohl sich der Tempelkrieger nicht wirklich sicher war. „Khaine?“
Sie lachte, als sie seine Unsicherheit bemerkte. „Ja, ich bin Khaine, blutiger Gott des Mordes. Du bist überrascht. Ich weiß, ihr, die ihr meine Kinder seid, stellt euch mich als Mann, als Krieger oder Attentäter vor. Doch warum sollte ich nicht die Gestalt einer Frau annehmen? Bin ich denn als unwiderstehliche Verführerin weniger gefährlich als in der Erscheinung eines Kriegers?“
Sisrall musste sich eingestehen, noch nie so darüber nachgedacht zu haben. Doch sie sprach schon weiter. „Nun du bist hier in meinem Reich. Der Altar, auf dem man dich geopfert hat, verbannt die Seele eines jeden hierher. Du hast Glück, denn das Geschenk des Flammenbrunnens hat dich gerettet. Du hast inzwischen begriffen, dass du nur überleben kannst, wenn du das Gleichgewicht zwischen Feuer und Schatten hältst.“
„Ich lebe also noch?“, fragte Sisrall erleichtert.
„Ja du lebst noch. Deine Seele, hierher geschleudert, kann in deinen Körper zurückkehren. Doch bis dahin sei mein Gast, Sisrall Blutklinge.“