Der Splitterdrache Rolle2
Dies ist die zweite Rolle, die Emerlin, Hochmagier des alten Nagarythe, zu jenen Ereignissen vor vielen tausend Jahren verfasst hat. Leider ist nicht mehr sonderlich viel übrig, ich habe versucht, jene Stellen zusammen zu fassen oder zu ergänzen, die unvollständig sind. Dies ist vor allem ein Bericht der Reise, die er unternommen hatte, um den seltsamen Vorfällen auf die Spur zu kommen.
[FONT=Basil, serif]Wir sind inzwischen mehr als einen Monat lang unterwegs, doch es ist nichts geschehen, dass sich lohnen würde, festzuhalten. Außerhalb des Hofes erreichen mich natürlich keine Berichte mehr von weiteren Vorfällen, aber damit habe ich gerechnet. Es ist aber in der Tat, wie ich es gesagt habe: hier in der Wildnis ist uns beiden, die wir eigentlich ein schwaches Ziel sein sollten, nichts geschehen, wenn man von einem Vorfall mit einem wilden Bären absieht. Wir haben zwei der Dörfer besucht, die schon seit mehreren Jahren entvölkert sind. Natürlich will niemand dorthin zurückkehren und so verfallen die Gebäude inzwischen, während sich einige Tiere dort eingenistet haben. Es ist ein trauriges Bild, aber immerhin ist die Magie inzwischen zurückgekehrt.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Kerkil ist neugierig. Er untersucht die Dörfer mit großer Genauigkeit, aber auch er hat bisher nichts gefunden, was uns irgendeinen Hinweis auf den Grund oder wenigstens den Ablauf dieser Vorfälle liefern würde. Dennoch ist die Stille dort beängstigend und wir ziehen meist nach wenigen Tagen weiter, in dem Wissen, dass wir hinter uns die Heimstätte dutzender Elfen den Pflanzen und Tieren überlassen. [/FONT]
[FONT=Basil, serif]Kerkil hat mich aufgefordert, etwas für ihn aufzuschreiben, das mir bisher entgangen ist. Ich weiß nicht, ob es eine Bedeutung hat oder nicht, aber es ist interessant: Wie schon berichtet, sind die Tiere, die im Dorf oder in dessen Nähe gelebt haben, alle verschwunden, als hätten sie ihre Herren begleitet. Es gab aber weder losgerissene Leinen noch Spuren davon, dass Raubtiere sie geholt hätten. Aber das ist nicht das, was Kerkil meint. Ihm ist aufgefallen, dass die Wildtiere, die in der Umgebung gelebt haben, nicht verschwunden sind, jetzt sind einige von ihnen sogar in die Dörfer eingedrungen und haben es sich dort gemütlich gemacht, wo sich Elfen unwohl fühlen.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Inzwischen sind wir seit beinahe einem halben Jahr unterwegs und haben das Gebiet von Nagarythe schon längst verlassen. Doch die Vorfälle sind nicht begrenzt. Überall finden sich die gleichen Beschreibungen, ich habe auch schon mit mehreren Hochmagiern der anderen Höfe gesprochen. Sie finden genau so wenig eine Bedeutung in allem, wie ich es tue. Aber sie haben zugesagt, ihre Leute zu überreden, den Handel wieder aufzunehmen. Ich selbst habe dutzende Dörfer besucht und den Bewohnern klar gemacht, dass ihnen in der Wildnis nicht mehr Gefahr droht als vor diesen Ereignissen. Natürlich sitzt die Angst tief, aber ich denke, ich habe die meisten überzeugt.[/FONT]
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[FONT=Ruach LET, Times New Roman]Was hier stand, kann ich selbst nur raten, aber angesichts der Wortfetzen, die noch übrig sind, scheint es sich um einen Bericht einiger Gespräche in den Dörfern und Städten zu handeln sowie eine Erzählung über Kerkil und dessen Fortschritte. Ich glaube, etwas von einem Kampf gelesen zu haben, aber das kann auch etwas anderes sein. Vielleicht war es das erste Zeichen, welch ein guter Kämpfer der Junge ist.[/FONT]
[FONT=Ruach LET, Times New Roman][/FONT]
[FONT=Basil, serif]Wir reisen weiter nach Süden, auf der Ostseite des Inneren Ozeans entlang. Auch hier ist es zu Vorfällen gekommen, wie wir sie kennen, aber bedeutend weniger, wie uns scheint. Kerkil meint, ihm wäre aufgefallen, dass die Zahl und das Ausmaß der Berichte nach Süden hin drastisch abnehmen. Das wirft die Frage auf, was ich davon halten soll. Sitzt der Verursacher des Ganzen vielleicht im Süden und geht auf diese Weise gegen den Norden vor? Oder müssen wir den Verantwortlichen eher im Norden suchen, wo er alles in seiner Reichweite verschwinden lässt? Ich kann es nicht sagen, aber ich halte die zweite Variante für wahrscheinlicher. Wir haben keinen Streit mir südlichen Ländern und ich glaube auch nicht, dass es sich hierbei um eine Aktion handelt, die von den Herrschern eines Elfenreiches gelenkt wird. Ich vermute irgendeine selbstständige Gruppe dahinter, aber mehr weiß ich nicht. Aber es gibt noch einen Grund für die Nord-Variante: Wie auch immer die Leute entführt werden, ob mit Magie oder einfach über die Straße, sie müssen irgendwohin gebracht werden. Und je weiter dieser Weg ist, desto aufwändiger ist er. Auf normalem Wege wird die Gefahr, entdeckt zu werden bei einem Weg quer durch Ulthuan schnell größer. Wenn wirklich Magie im Spiel ist, steigen der Bedarf und die Anstrengungen rapide mit der Entfernung.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Wir haben Hoeth besucht, doch dort hat man nur entfernt von solchen Vorfällen gehört. Anscheinend gab es hier im tiefsten Süden kein einziges Verschwinden von Leuten, nicht einmal einzelnen. Also haben wir uns entschlossen, so bald wie möglich wieder nach Norden zu wandern. Kerkil macht beachtliche Vorschritte: Ihm gefällt die Wildnis und er hat gelernt, dort zu überleben. Außerdem hat er mich mit meinen bescheidenen Schwertkünsten schon lange überholt. Ich konnte ihn sogar für die Magie erwärmen und er hat sie mit Begeisterung gelernt. Inzwischen hat er sein geringes Potential schon fast ausgeschöpft. Außerdem ist es ein kluger Bursche, er will mir unbedingt helfen. Er hat angefangen, meine Aufzeichnungen zu den Vorfällen durchzugehen und miteinander zu vergleichen. Ich bezweifle, dass er viel findet, aber immerhin ist er auf diese Weise beschäftigt. Wir kommen auf jeden Fall gut voran. Morgen könnten wir eines der südlichsten Dörfer finden, die komplett entvölkert wurden.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Wir sind nun schon fast zwei Jahre unterwegs und bald wieder zu Hause. Ich blicke mit Erwartung und Furcht in die Zukunft. Ich weiß nicht, was uns erwartet. Vielleicht gab es noch weitere Vorfälle? Schlimmere möglicherweise? Die hoffnungsvolle Aussage Kerkils, das Thema hätte sich vielleicht schon von selbst aufgelöst, musste ich leider widerlegen. Das wäre nach zwanzig Jahren doch etwas zu gewagt. Der Junge hat beim Lesen der Aufzeichnungen in der Tat nichts gefunden, aber immerhin weiß er jetzt etwas besser darüber Bescheid. Ich hatte fälschlicherweise angenommen, jeder am Hofe müsse so gut wie ich darüber im Bilde sein. Ich habe auf unserer Reise auch schon viel über Kerkil erfahren. Er war eigentlich ein einfacher Junge, der bei einem Schmied aufgewachsen war, weil seine wirklichen Eltern verschwunden waren. Sie gehörten nicht zu den Opfern der Vorfälle, sondern es wusste einfach niemand, wer die Eltern dieses Kindes waren. Da er ungewöhnlich klug war, hatten ihn seine Pflegeeltern an den Hof geschickt, wo er sich bilden und vielleicht eine Anstellung als Schreiber finden sollte. Den Unterricht beim Waffenmeister absolvierte er wie die meisten anderen dort nur nebenbei, doch er bewies Talent, das schon beinahe furchterregend zu nennen war. Zumindest hatte der Meister mir das erzählt und ich pflege nicht an solchen Worten zu zweifeln. Wenn dieser Junge, der nur gelegentlich Unterweisungen mit dem Schwert bekam, schon in der Lage war, Kameraden mit mehr Erfahrung zu besiegen, was konnte er dann noch alles?[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Wir sind nun wieder in Nagarythe. Ironischer weise war das erste Dorf, das wir hier fanden, entvölkert. Wir haben inzwischen sechs oder sieben leere Dörfer gefunden, manche davon waren schon vor unserer Abreise verlassen, andere erst seit Kurzem. Aber es gibt auch noch bewohnte Dörfer, in denen wie einige Neuigkeiten gehört haben. Es scheint, als würden die Dörfer, die man leer findet, immer größer werden, es soll sogar schon eine kleine Stadt entvölkert worden sein. Ich mache mir langsam Sorgen, wo das noch hinführen soll .Aber immerhin hat man den Handel wieder aufgenommen, sobald die Leute gemerkt haben, dass ihnen in der Wildnis tatsächlich kaum etwas droht.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Ah endlich! Zurück im Palast. Ich wünsche mir schon, wir wären nicht zurückgekommen. Seit zwei Tagen hatte ich nichts anderes zu tun, als die verschiedensten Berichte, Beschwerden und Nachrichten durchzuarbeiten. Ich habe Kerkil als Helfer engagiert, immerhin ist er als Schreiber hier. Mit seiner Hilfe geht das Ganze ein wenig schneller, obwohl ich natürlich trotzdem die Entscheidungen treffen muss, die von mir verlangt werden. Deshalb besteht Kerkils Aufgabe darin, die Berichte über weitere Vorfälle mit entvölkerten Dörfern oder verschwundenen Personen vom Rest zu trennen und dann zu sortieren und selbst zu bearbeiten. Er macht sich eine Liste. Ich persönlich erwarte nicht, dass sich viel zu dem Muster vor unserer Abreise verändert hat.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Der Papierberg ist endlich geschafft! Kerkil hat mir heute Abend das Ergebnis seiner Arbeit mit den Berichten weiterer Vorfälle präsentiert. Es war, wie erwartet: entvölkerte Dörfer, verschwundene Leute in den Städten. Ihm sind nur zwei Dinge aufgefallen: die Dörfer werden tatsächlich größer und eines der Opfer war eine kleine Stadt. Außerdem hat es in den Städten bisher keine Meldungen von verschwundenen Tieren gegeben. Ob keine verschwunden sind oder sich einfach niemand die Mühe macht, das zu melden, können wir nicht sagen, aber vielleicht ist es ohnehin nicht wichtig.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Wir sind inzwischen schon fast zwei Wochen wieder daheim und haben uns wieder eingelebt. Es gab einen weiteren Bericht einer einzelnen „Entführung“, aber das hat kaum Aufmerksamkeit erregt. Kerkil hat mich abermals um meine Aufzeichnungen der vergangen Vorfälle gebeten. Ich weiß nicht, was er dort zu finden hofft, aber ich lasse ihm den Spaß.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Es sieht so aus, als hätte sich Kerkils Mühe doch gelohnt. Er hat meine Aufzeichnungen in den letzten drei Wochen akribisch studiert, sich seitenlange Notizen gemacht und alles immer wieder miteinander verglichen. Und er ist dort fündig geworden, wo ich es am wenigsten erwartet hätte: bei den seltsamen Zeichen, die niemand zu deuten wusste und die immer nur von einer einzigen Person gesehen worden waren. Heute Abend kam er ganz aufgeregt in mein Zimmer und rief nur „Der Drache wächst!“[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn dazu gebracht habe, vernünftig zu sprechen, aber seine Worte haben selbst mich überrascht. Er hatte sämtliche Berichte von den Zeichen verglichen. Vielleicht muss ich noch anmerken, dass wir stets nur wörtliche Beschreibungen hatten, niemals Zeichnungen. Kerkil hatte sich unter anderem diese Beschreibungen vorgenommen und sie miteinander verglichen. Es gab gleich mehrere Auffälligkeiten:[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Zum einen hatte ich stets angenommen, das Zeichen wäre immer ein anderes, da sich die Beschreibungen so anhörten. Doch das stimmte nicht. Kerkil hatte bemerkt, dass viele der Leute Ähnliches beschrieben, mal aus einer anderen Perspektive, mal mit besonderer Betonung anderer Merkmale dieser Zeichen. Doch letztendlich waren es nur acht verschiedene Zeichen, die sich immer wiederholten. Da ist zum einen die Pranke mit den langen Krallen, die schon beim ersten Mal aufgetaucht ist. Dann gibt es etwas, das aussieht wie ein langer Schwanz mit grauenhaften Stacheln. Außerdem zwei Flügel, die denen einer Fledermaus ähneln, aber unangenehme, krallenartige Ausläufer haben. Das vierte Zeichen ist ein Drachenkopf, vor allem der obere Teil ohne Schnauze. Diesen Kopf zieren zwei senkrechte Augen und ein Horn, das in sich gewunden war und wie eine Krone oder ein schrecklicher Bohrer wirkte. Das fünfte Zeichen scheint ein Rücken zu sein. Ihn zieren drei Reihen langer, gezackter Stacheln, die sich von Hals bis zum Schwanzansatz ziehen. Der Schwanz selbst fehlt bei diesem Bild. Das sechste Zeichen ist ein längliches, reptilienartiges Maul, das zornig aufgerissen wird und Reihen langer, spitzer Zähne entblößt. Das siebte Zeichen scheint eine Flammenfontäne abzubilden, hier allerdings weichen die Beschreibungen voneinander ab. Das achte Zeichen zeigt einen furchterregenden, feuerspeienden Drachen, der von seltsamen Linien durchzogen ist, die ihn zu teilen scheinen. Ich kann mir darauf keinen Reim machen, aber ich vertraue Kerkil. Er hat sich bestimmt größte Mühe gegeben, die Aussagen der Leute zu untersuchen. So schön es ist, einen Fortschritt zu haben, es hilft uns nicht dabei, das Problem mit den Vorfällen zu lösen.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Doch es gibt noch eine zweite Auffälligkeit, die der Junge bemerkt hat: die Zeichen sind im Laufe der Jahre immer größer geworden. Natürlich kann das durch Übertreibungen so erscheinen sein, aber es zeichnete sich doch ein deutlicher Trend ab. Inzwischen sind die Zeichen auf das zehnfache der anfänglichen Größe gewachsen. Daher kam auch Kerkils Ausruf, der Drache sei gewachsen. Ich kann es ihm nicht verdenken, diese Zeichen, die er beschreibt und auch gezeichnet hat, erinnern allesamt verdächtig an einen Drachen oder wenigstens Teile davon. [/FONT]
[FONT=Basil, serif]Nach Kerkils Theorie haben die entführten Leute allesamt dazu gedient, den oder die Drachen zu füttern. Ich gebe zu, es klingt gut, aber es ist wohl zu einfach, um wahr zu sein. Denn ein paar Fragen bleiben, die auch er mir nicht beantworten kann: Wieso gibt es nirgends Spuren eines Kampfes? Wieso fehlt an den Orten sämtliche Magie? Und weshalb sollte man sich die Mühe machen, einzelne Personen aus den Städten zu entführen? Wenn Kerkil Recht hat, sind wir dem Rätsel einen Schritt näher gekommen, aber dieser winzige Schritt zeigt uns erst das Ausmaß des gesamten Weges, fürchte ich. Ich werde mit Lady Morathi reden und ihr von den acht Zeichen erzählen.[/FONT]
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[FONT=Basil, serif]Das Gespräch hat leider nichts ergeben. Lady Morathi fand die Neuigkeiten zwar interessant, konnte sich aber ebenfalls keinen Reim auf die Bedeutung der Zeichen machen. Ich habe versucht, mit Kerkil zu sprechen, aber der Junge ist übelster Laune. Er ist der seltsamen Überzeugung, mehrere Götter anzubeten wäre schlecht. Seiner Meinung nach ist Khaine, der Kriegsgott, der einzig wahre, anbetungswürdige Gott. Ich weiß nicht, wie er darauf kommt, aber ich hoffe, dass diese Phase bald vorbei geht und er nicht so ein Verrückter wird wie die „Drachenbeschwörer der wahren Götter“[/FONT]
[FONT=Basil, serif]Jedenfalls hat uns Khaine bisher nicht mehr geholfen als alle anderen Götter auch. Die seltsamen Vorfälle dauern an und es gibt weder Erklärungen noch Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren.[/FONT]