So da Sansker so begierig auf den nächsten Teil war, gehts heute schon weiter. Viel Spaß.
Kampf ohne Klingen
Stadt des Khainler; Unterwelt
Die Schatten lagen dicht in den Außenbezirken der unterirdischen Stadt, sodass Sisrall keine Mühe hatte, sich im Dunkeln zu halten. Leise drückte er sich an die Mauer, die den Bereich der Zuchtanlagen, in dem er sich befand, von den anderen abgrenzte. Es ging ihm weniger darum, dass keine eventuellen Wächter ihn bemerkten. Die größere Gefahr ging von den schlafenden Bestien aus, die den ummauerten Bereich bewohnten. Ein Rudel aus sechs riesigen Kampfechsen lag in der Mitte der Fläche, in täuschender Ruhe. Sisrall wusste um die empfindlichen Sinne und die tödliche Kraft der Ungeheuer, sodass er sich nicht allein auf seine Künste des Schleichens verlassen wollte. Bei jedem Zucken der Nüstern oder der schuppigen Ohren eines der Nauglir hielt er mitten in der Bewegung inne und wartete mehrere bange Herzschläge lang, bevor er weiterschlich.
Inzwischen war er froh, dass Yetail ihm offenbar nicht gefolgt war, ihre deutlichen Schritte hätten alles ruiniert. Obwohl Sisrall sich eingestehen musste, dass der Schwebezauber ihn Respekt vor ihren magischen Fähigkeiten gelehrt hatte, bezweifelte er dennoch, dass sie unbemerkt an den Kampfechsen vorbei gekommen wäre.
Während der Tempelkrieger weiterschlich, versuchte er, den Geruch zu ignorieren, der über dem gesamten Zuchtbereich wie eine riesige Wolke hing. Es roch nach verrottender Nahrung, nach dem Kot der Tiere und überdeutlich nach Blut.
Er wusste eigentlich gar nicht, was sein Ziel war, außer natürlich, den Piratenfürsten zu ermorden. Und dabei nicht bemerkt zu werden, wie es ihr vermummter Helfer gefordert hatte. Bevor er über die Mauer geklettert war, hatte er Fackelschein hinter einer weiteren Steinumzäunung gesehen, oder glaubte das zumindest. Seine Hoffnungen basierten darauf, dass sich der Herrscher der Stadt dort aufhielt. Wie er ihn am besten töten konnte, wollte er entscheiden, sobald er sicher war, ihn gefunden zu haben.
Deshalb schlich er jetzt am Rande des Nauglir-Pferches herum, hin- und hergerissen zwischen Eile und Vorsicht. Eile deshalb, weil er sein Opfer möglicherweise verpasste, wenn er sich zu viel Zeit ließ, und Vorsicht, weil er sich keine Zehn Meter von einem halben Dutzend tonnenschwerer, reißzahnbewährter Raubtiere befand. Eine einzelne Kampfechse fürchtete er nicht, er würde sie entweder töten oder ihr entkommen, aber einem ganzen Rudel, das außerdem noch darauf spezialisiert war, zusammen zu jagen und — wesentlich größere und kräftigere — Beute zu erlegen, würde er kaum etwas entgegen setzen können.
Aber inzwischen war er bereits an den schlafenden Giganten vorüber und näherte sich etwas rascher der Mauer, hinter der er den Fackelschein gesehen hatte, vorausgesetzt, es war keine Sinnestäuschung gewesen. Es dauerte wirklich nicht mehr lange, dann stand er am Fuße der Mauer und zog sich vorsichtig hoch, nachdem er sich noch einmal überzeugt hatte, dass die Nauglir immer noch schliefen.
Beinahe hätte er sich eingestanden, einer Täuschung erlegen zu sein, aber aus den Augenwinkeln sah er am Ende des Ganges, der zwischen der Mauer und der nächsten lag, eine Tür zufallen. Die Pforte war aus schwerem Stahl und schmucklos. Nicht einmal eine Beschriftung fand sich dort, aber Sisrall schöpfte neue Zuversicht. Vorsichtig, noch immer mit der Gefahr im Rücken, die Nauglir zu wecken, kletterte er über die Einfassung und sprang auf der anderen Seite zu Boden. Der Gang bot kaum genug Platz für einen Nauglir und war mit ausgetretener Erde bedeckt, über die Sisrall nun lautlos in Richtung der Tür huschte.
Dort angekommen musste Sisrall feststellen, dass er die Pforte nicht öffnen könnte, zumindest ohne einen riesen Radau zu machen. Offenbar hatten die Besucher der Zuchtanlagen beziehungsweise deren Führer hinter sich abgeschlossen und ohne Dietriche …
bin ich blöd? Wozu habe ich eigentlich Magie erlernt?
Zwar erinnerte er sich nur noch dunkeln an die betreffenden Unterweisungen durch seinen Meister Eswirl, aber als er sich konzentrierte, kamen die Bilder der Vergangenheit bald wieder zurück in sein Bewusstsein. Dennoch war es mühsam und unvertraut, nach den Winden der Magie zu greifen und diese dazu zu bringen, das Schloss der Tür zu bewegen. Der Assassine brauchte mehr als einen Versuch, aber schließlich knackte es verheißungsvoll und er konnte die Tür mühelos öffnen.
Dahinter lag eine Kreuzung aus drei weiteren Gängen, die dem, in dem er stand, glichen. Aus dem zu Sisralls Linker näherten sich Stimmen, während gleichzeitig der Fackelschein an den Wänden zunahm. Schnell verdrückte er sich wieder hinter die Tür und hielt sie lediglich einen Spalt breit offen, sodass er die Stimmen gedämpft verstehen konnte.
„… gefällt mir sehr gut.“, erklang die Stimme des Piratenfürsten und Sisrall musste sich zusammenreißen, nicht gehässig zu lachen. Er hatte sein Ziel gefunden.
„Ich möchte, dass sie sich noch mehr um die Drachen kümmern. Ich will, dass dieses Vieh uns endlich bedingungslos gehorcht. Es kann doch nicht sein, dass es sich ständig losreißt und unsere Bestienbändiger zerreißt. Stellt Euch einmal vor, dass würde inmitten eines Kampes geschehen.“
„Ja, Herr, das sollte unbedingt vermieden werden.“, antwortete ein zweiter Mann, wahrscheinlich einer der Züchter. „Allerdings sind Drachen, besonders derart mächtige und kluge Exemplare, zu denen Szar’zrass eindeutig gehört, launische und stolze Wesen, die nun einmal keine Kontrolle durch andere dulden. Er ist noch jung, deshalb hoffe ich, dass wir ihn bald lehren, uns als seine Meister anzuerkennen. Was möchtet Ihr als nächstes sehen?“
Da Sisrall keine Schritte mehr hörte, vermutete er, dass sie auf der Kreuzung stehen geblieben waren. Er hoffte, dass sie nicht durch die Tür kommen würden. Aufgrund der Schritte hatte er geschlussfolgert, dass die Gruppe aus mindestens zwanzig Personen bestand, von denen etliche offenbar schwer beladen waren, was auf gerüstete Leibwachen schließen ließ.
„Zeigt mir zuerst die Mantikore und danach die Nauglir, es müssten einige Exemplare hier in der Nähe sein, oder?“
„Ja, Herr. Die Nauglir befinden sich hier direkt neben uns. Zumindest eines unserer Rudel. Die Tür ist ein paar Meter voraus. Hier zu unserer linken kommen wir auf schnellstem Wege zu den Mantikoren. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?“
„Und die Tür hier rechts?“, fragte der Fürst, der sich noch nicht von der Stelle bewegt hatte.
„Von dort sind wir gekommen.“, erwiderte der Züchter, während sich die Gruppe von Sisrall entfernte. Der lehnte sich gegen die Mauer und dachte nach, während irgendwo ein paar Pferche entfernt eine Kreatur wutentbrannt brüllte. Es kam aus der Richtung, in der Yetail verschwunden war.
Ich hoffe nur, sie bringt sich nicht schon wieder in Schwierigkeiten. Ach ich sollte mir nicht daran denken. Helfen kann ich ihr eh nicht, zumal sie es inzwischen nicht mehr verdient, so oft, wie ich sie schon gerettet habe. Außerdem ist sie mächtig genug, um sich notfalls mit Magie zu befreien.
Interessanter wäre vielmehr, wie ich den Piratenfürsten töten kann. Sie wollen zu den Mantikoren und anschließend die Kampfechsen besuchen. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollen sie das Rudel ansehen, an dem ich soeben vorbei geschlichen bin. Ich frage mich … ja wieso eigentlich nicht? Das ist geradezu perfekt.
Mit einem zufriedenen Grinsen, das wenig Gutes für seine Feinde verhieß, drehte Sisrall sich um und kletterte abermals über die Mauer, zurück in den Pferch mit den Kampfechsen. Vorsichtig schlich er auf die massigen Leiber zu, während er die Einfassung genauer musterte. Tatsächlich war dort eine Tür aus massivem Stahl, breit genug für zwei Nauglir nebeneinander.
Außerdem bemerkte er, dass die Nauglir an dicke Pflöcke aus Eisen gekettet waren, die fest im Boden steckten. Die Züchter konnten also den Pferch betreten, ohne dass die Nauglir sie anfallen oder durch die Tür entkommen konnten. Denn die Ketten waren viel zu kurz, um bis dort zu reichen. Die Kettenglieder waren mit mächtigen Schlössern an den Pflöcken befestigt, während sie fest an das Geschirr der Echsen gekettet waren.
Trotzdem habe ich kaum eine Chance, nahe genug an die Schlösser heranzukommen, zumal sie nicht so aussehen, als könnten sie mit den Waffen, die ich zur Verfügung habe, geöffnet werden. Immerhin sollen sie der ungebändigten Kraft einer Kampfechse widerstehen.
Anscheinend gab es nur den Weg, es abermals mit der Magie zu versuchen, obwohl es Sisrall zutiefst widerstrebte, zu derart unzuverlässigen Mitteln zu greifen. Ein Stich durch die Kehle war bei weitem sicherer. Aber er streckte abermals seinen Geist aus und zwang die Magie dazu, die Schlösser zu öffnen, was erstaunlich leicht war. Offenbar glaubte keiner daran, jemand könnte versuchen, die Nauglir zu stehen. Sie sollten sie lediglich hier festhalten und im Bedarfsfall zu lösen sein.
Sisrall sorgte dafür, dass die Ketten nicht zu Boden fielen, aber ein leichter Zug reichen würde, die Eisenbänder loszureißen. Dann griff er sich einen Stein, der am Boden lag, und zog sich langsam zu der Mauer zurück, über die er das erste Mal in den Nauglir-Pferch gekommen war. Er war noch mehr als fünfzehn Meter entfernt, als an der Eisenpforte Geräusche erklangen, die darauf hindeuteten, dass jemand versuchte, sie zu öffnen. Da die Nauglir ohnehin zuckten und erwachten, rannte er die letzten Meter und warf dann den Stein gegen den Kopf einer der Echsen, um sie anzustacheln, bevor er schnell über die Einfassung kletterte.
Auf der anderen Seite klammerte er sich so fest, dass er über die Mauer hinwegsehen konnte. Irgendwo hinter ihm erklang erneut das Brüllen der unbekannten Bestie, die offenbar ziemlich erregt über irgendetwas war. Sisrall hatte den Verdacht, dass es sich dabei um die junge Zauberin handelte, die sich und ihn so gern in Schwierigkeiten zu bringen schien.
Die Tür des Nauglir-Pferches wurde geöffnet und mehrere Khainler traten hindurch. Voraus ging der Piratenfürst, der von einem Mann mit langer Peitsche und Kettenhemd begleitet wurde. Offenbar war es der Züchter, der zuvor gesprochen hatte. Sisrall bezweifelte, dass die Ketten viel gegen die Kiefer von Nauglir oder die Krallen von Mantikoren ausrichten würden.
Hinter den beiden strömten ein paar weitere Züchter und die Leibwachen des Herrschers in die Einfassung. Sie trugen dicke, schwarzblaue Ketten- oder Plattenrüstungen und hielten Hellebarden in Händen. Irgendwie erinnerten sie den Tempelkrieger an die Soldaten der Schwarzen Garde, was vielleicht beabsichtigt war. Wenn die Khainler Malekith trotzten, währe es auch eine gute Botschaft, ihren Herrscher mit seiner eigenen „Schwarzen Garde“ zu schützen.
Während der Züchter auf den Piratenfürsten einredete und dabei mit knappen Gesten auf die Nauglir zeigte, erwachten diese rasch aus ihrem Schlaf. Kaum wurden sie sich des Fleisches bewusst, das da so bereitwillig in ihren Käfig marschiert war, da verflog ihre Müdigkeit vollends und sie stürzten sich auf die Beute. Alle bis auf die Züchter wichen zurück, diese verließen sich anscheinend voll darauf, dass die Ketten die Kampfechsen auf Distanz hielten. Als die Leibwächter das merkten, nahmen sie sich ein Beispiel und formierten sich wieder im Halbkreis hinter ihrem Fürsten.
Genau in dem Moment, als die Krieger sich wieder in Formation bringen wollten, rissen die Ketten endgültig und die Nauglir flogen geradezu auf ihre überrumpelte Beute zu. Die ersten, die sie erreichten, wurden einfach umgerannt und verschwanden mit rasch abbrechenden Schreien unter den schweren Pranken. Die Leibwächter versuchten, ihre Hellebarden gegen die anstürmenden Nauglir auszurichten, aber die ersten wurden von den gewaltigen Kiefern gepackt und entweder in der Luft zerrissen oder wie Spielzeug davon geschleudert. Das Krachen der brechenden Knochen drang an die Ohren des Tempelkriegers und der Geruch nach vergossenem Blut hing plötzlich in der Luft.
Innerhalb von zwei Herzschlägen hatten die Nauglir genau das getan, wozu sie von Khainlern und den Druchii an der Oberfläche gleichermaßen ausgebildet worden waren: Sie hatten die Formation der Krieger vollständig aufgerissen. Auf allen Seiten lagen die Überreste der Leibwächter oder solche, die überlebt hatten und sich nun wieder hochmühten. Inzwischen hatte der Piratenfürst versucht, zu fliehen, was aber von seinen Kriegern, die alle gleichzeitig durch die Pforte drängten, sich gegenseitig umrempelten, verkeilten und von den hungrigen Kampfechsen herumgerissen wurden, gründlich verhindert wurde.
Sisrall beobachtete, wie sich fünf Leibgardisten, die hinter den Nauglir gelandet waren, gemeinsam auf eine verwundete Echse stürzten, die sich im Lauf auf einer Hellebarde aufgespießt hatte. Während die übrigen Nauglir noch die letzten Krieger vor der Tür zerrissen, schafften es die fünf, die verwundete Echse mit ihren langen Waffen zu verletzen. Unter ihren gut gezielten Hieben auf Gesicht, Hals und zwischen die Rippen gaben die sonst so kräftigen Beine des Nauglir nach und der mächtige Körper brach zusammen. Zwar schaffte sie es noch, einen der Krieger zu packen und gegen die Wand zu schmettern, wo er reglos herunterrutschte, aber bald schon war die Schuppenhaut des Tieres so zerhackt und blutüberströmt, dass der Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte.
Mit einem letzten Aufbäumen peitschte der muskulöse Schwanz herum und brach einem der Krieger die Beine, bevor ein letzter Hieb der Hellebarde die Brust des mächtigen Wesens aufriss, woraufhin die Kampfechse endgültig zusammenbrach und nur noch kurz heftig zuckte, ehe sie ruhig wurde.
Da der Rest des Rudels den Tod des Nauglir nicht bemerkt hatte, sondern sich an den Überresten der Getöteten gütlich tat, nutzten die Überlebenden die Chance und humpelten in Richtung der Mauer, die sie schnell überkletterten. Ihren Kameraden mit den gebrochenen Beinen nahmen sie mit, obwohl sie dadurch wesentlich langsamer wurden.
Aber für Sisrall war deutlich, dass sie es schaffen würden und er wartete nur noch, bis sie hinter der Einfassung verschwunden waren, bevor er zurück in den Nauglir-Pferch kletterte und leise auf die gefallene Echse zu rannte. Sie lag in der Nähe des Tores und Sisrall erkletterte rasch die Mauer, sich davon überzeugend, dass die Überlebenden ihn nicht bemerkten. Oben angekommen versuchte er, zwischen den riesigen fressenden Leibern etwas zu erkennen, aber es dauerte, bis er endlich den Kopf von Kisilvis bemerkte. Der war offenbar unter die Pranke eines Nauglir geraten und nur noch schwer erkennbar, aber er war es eindeutig.
Er benutzte abermals ein wenig Magie, um den Schädel zu bewegen, sodass er zur Wand rollte und dort wie zufällig liegen blieb. Er wollte einen Beweis für ihren vermummten Helfer hinterlassen, der den Tod des Piratenfürsten gefordert hatte. Allerdings sollte es nicht zu arrangiert aussehen, weshalb Sisrall den Kopf einfach rollen ließ. Das kostete außerdem weniger Anstrengung.
Als er damit zufrieden war, sprang er von der Einfassung herunter und kniete sich neben die aufgerissene Brust des toten Nauglir. Der Geruch nach Blut schlug ihm entgegen und er atmete ihn gierig ein und grinste böse. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal Blut vergossen hatte?
Aber heute konnte er nicht selbst töten, ohne sich und Yetail zu verraten.
Ich hoffe, sie begeht nicht gerade irgendeine Dummheit, dachte er.
Das würde ich ihr glatt zutrauen. Ich hoffe nur, sie wurde nicht inzwischen geschnappt, das würde nämlich all meine Bemühungen zunichte machen.
Doch dafür war keine Zeit, denn Sisrall wusste, dass das Nauglir-Rudel jederzeit mit dem Fressen fertig sein und auf ihn aufmerksam werden konnte. Deshalb fuhr er seine Dornklingen aus und schnitt tief in die Brust der Echse. Rippen waren gebrochen und Muskeln zerfetzt, sodass er sich diese Arbeit sparen konnte und schnell tiefer kam. Es dauerte nicht lange, dann hatte er gefunden, was er suchte: das Herz des Nauglir, das so groß war wie sein ganzer Kopf.
Ich hoffe, Yetail weiß, was sie damit will, dachte er skeptisch.
Nur weniger präzise Schnitte waren nötig, dann hielt er das schwere Organ in Händen. Da das Schmatzen der fressenden Nauglir und das Knacken der brechenden Knochen inzwischen leiser geworden waren, zögerte Sisrall nicht länger, sondern machte sich davon zu der Mauer, von wo aus er Yetail das letzte Mal gesehen hatte.
Kaum hatte er zehn Meter zurückgelegt, als hinter ihm auch schon das hungrige Brüllen der tonnenschweren Jäger und das Stampfen ihrer mächtigen Pranken ertönten. Das ganze Rudel machte offenbar auf ihn Jagt, während er so schnell wie möglich auf die Einfassung zu rannte, das große Herz der toten Echse in beiden Händen haltend. Wie damals in der Höhle, hoch oben in den Eisenbergen kamen die schnappenden Mäuler, erkennbar am Geruch, und das Dröhnen der schweren Schritte immer näher.
Schon zehn Meter vor seinem Ziel warf Sisrall seine Last über die Mauer und stieß sich ab, sobald er glaubte, den Sprung schaffen zu können. Er bekam die Mauerkrone zu fassen, aber seine metallenen Finger rutschten ab, sodass er sich hart das Knie aufschlug. Glücklicherweise verhinderten Umhang und Rüstung, dass er sich verletzte, aber der Sturz kostete ihn wertvolle Sekunden, in denen die wütende Meute erschreckend schnell näher kam. Er wusste, dass er nur noch einen Versuch hatte und auch den nur, wenn er sich sehr beeilte.
Also sprang er, sobald er wieder auf den Beinen stand. Dieses Mal fanden Sisralls Hände Halt und er zog sich hoch, genau in dem Moment, als eine zahnbewerte Schnauze dort gegen die Einfassung krachte, wo eben noch seine Beine gehangen hatten. Der Aufprall ließ die ganze Mauer erbeben und machte deutlich, dass ihre Erbauer niemals mit einem derart kraftvollen Ansturm gerechnet hatten. Während weitere Schläge die Einfassung erzittern ließen, sprang Sisrall auf der anderen Seite herunter, las das schwere Herz auf und rannte wieder los, da er wusste, dass die Mauer hinter ihm nur noch zwei oder drei wütende Treffer aushalten würde.
Wieder fühlte er sich an die Höhle erinnert, nur dass er die Verfolger damals nicht gesehen und nicht erkannt hatte. Allerdings machte es in diesem Moment keinen Unterschied, außer, dass er wusste, was ihn töten würde. Widerstand leiste konnte er nicht, das wusste er.
Sisrall war wieder in dem leeren Pferch, den Yetail und er gleich zu Anfang gefunden hatten, als sie in die Zuchtanlagen eingedrungen waren. Kurz fragte er sich, wo sie junge Zauberin wohl stecken könnte.
Mach ich mir jetzt schon Sorgen um sie? Nein, aber wenn sie tot ist, hätte ich mein Leben umsonst führ dieses verdammte Herz riskiert. Ohne das Teil hätten mich die Viecher nie bemerkt und ich wäre jetzt nicht so langsam.
Trotzdem wäre sie vielleicht gute Gesellschaft. Bei der Suche nach der Marilim kann sie mir zwar kaum helfen, diese Aufgabe hat Khaine für mich vorgesehen. Aber sie weiß etwas darüber und jede Information ist schon mehr als ich weiß. Außerdem scheint es, als läge auch ihr etwas an unserem Volk und als hätte auch sie eine Mission von Khaine bekommen. Zusammen hätten wir möglicherweise größere Chancen.
Die Wege des Schicksals sind weitläufig. Ich sollte nicht versuchen, sie zu ergründen. Was, wenn es Khaines Wille ist, dass wir uns jetzt schon wieder trennen und unsere Suchen jeweils alleine vollenden?
Er kam nicht mehr dazu, eine Antwort auf die Frage zu finden, denn ein Krachen hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken und spornte ihn zu schnelleren Schritten an. Es klang ganz so, als habe die Mauer nun endgültig nachgegeben. Schon trommelten die schweren Pranken wieder hinter ihm über den lehmigen Boden, während der zischende Atem wie ein Sturm in seinen Ohren klang, der unausweichlich näher kam.
Er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde, wusste es, als er die hohe Mauer sah, über die Yetail beim letzten Mal geschwebt war. Er konnte die Mauerkrone nur erreichen, wenn er seine Klettermesser einsetzte, aber dafür würde niemals genug Zeit sein. Die äußere Einfassung war dick und würde ihm Sicherheit vor dem Ansturm der Nauglir bieten, sobald er auf der anderen Seite war, aber genau das stellte sich als schwierig heraus.
Vielleicht kann ich es schaffen, wenn ich abspringe und sofort bis kurz unter die Mauerkrone gelange. Wenn ich meine Messer dort in den Stein bohre, könnte ich es ohne weiteres Klettern schaffen, nach oben zu kommen. Es kling, als hätte ich noch Zeit für einen Versuch.
Tatsächlich waren die Nauglir noch mindestens zehn Meter hinter ihm und holten nur langsam auf. Die Mauer hatte sie länger aufgehalten, als Sisrall vermutet hatte, vielleicht konnte der Assassine auch schneller laufen, als er sich zugetraut hatte, immerhin war da immer noch die Unterstützung durch die Rüstung, deren Macht er nicht vollständig einschätzen konnte.
Er schleuderte das Herz abermals über die Einfassung, hoffend, es würde der groben Behandlung unbeschadet widerstehen, und zog unter dem Umhang seine Klettermesser, bevor er möglichst genau abzuschätzen suchte, wann er springen musste. Er beschloss, sich auf sein Gefühl und die Gnade Khaines zu verlassen und sprang.
Seine Messer kratzten über den Stein und trieben tiefe Furchen in das Material, aber sie fanden keinen Halt, schon krachte er durch seinen Schwung erst gegen die Einfassung und dann auf den Boden.
Entweder mein Gefühl taugt nichts oder Khaine hat mich im Stich gelassen, fuhr es ihm durch den Sinn, als hinter ihm ein Orkan aus trommelnden Pranken und keuchendem Atem auszubrechen schien. Während er sich noch wieder aufrichtete, fühlte er, wie sich die ersten Kiefer um seine Brust schlossen.