So, weiter:
Zurück zu Feinden?
Unterwelt
2567 IC; 8.Zunehmender Mond
So langsam gehen mir diese Felsen auf die Nerven … Oh Khaine, ich glaub ich werde verrückt. Wie oft habe ich das jetzt innerhalb der letzten zwei Stunden gedacht? Und davor? Hm. Einfach nicht darüber nachdenken. Einfach einen Schritt vor den anderen setzen, die Umgebung ignorieren und hoffen, dass es bald etwas Abwechslung gibt. Wenn nur mein Begleiter nicht so verdammt unberechenbar wäre.
Mit einem halb wütenden, halb müden Blick versuchte Yetail, ein Loch in Sisralls Rücken zu starren, in der Hoffnung, er würde dadurch wieder vernünftig werden. Was auch immer er dort im Tunnel gesehen oder erlebt hatte, es hatte ihn verändert. Und nicht nur zum Guten. Klar, er war nun mächtig, hatte unglaubliche Reflexe und war wohl stärker als jeder Elf. Aber er wechselte andauernd zwischen Fanatismus und einen halbwegs „normalen“ Sisrall hin und her.
Das Schlimme für Yetail war, dass diese Wechsel stets unvorhersehbar eintraten. Eben noch erzählte sie Sisrall, was sie zusammen erlebt hatten, bevor er im Tunnel verschwunden war, im nächsten Moment erklärte ihr Blutklinge, dass all das uninteressant wäre und nur der Dienst an Khaine zähle.
Und das ist nun fast fünf Tage her, dachte sie müde. Immerhin scheint er sich allmählich zu erinnern. Allerdings frustrierender Weise an jene Teile besser, in denen er für Khaine gekämpft hat. Und es ist schwierig, darüber mit einem Fanatiker zu reden. Wenn er wenigstens deutlich erklären würde, was er dort erlebt hat.
Sisrall hatte ihr erzählt, dass er im Schattenreich bei Khaine gewesen sei und dieser ihm die Marilim gegeben habe. Oder so ähnlich. Der Rest war ja ziemlich verwirrend. Yetail versuchte, sich das in Erinnerung zu rufen, was sie im Buch gelesen hatte. Es hieß, jeder auserwählte müsse einen Preis zahlen. Ist dieser Fanatismus vielleicht sein Preis? Kann er nicht mehr normal werden?
Sie hatte bereits versucht, mit dem Tempelkrieger darüber zu reden, aber jedesmal, wenn sie dieses Thema anschnitt, kehrte die fanatische Seite zurück und das Gespräch brach ab. Deshalb vermied sie es, über jene Ereignisse zu reden. Es schien nämlich, dass Blutklinge stets dann die Kontrolle übernahm, wenn sie ein Thema ansprach, bei dem es um den Dienst im Namen Khaines ging. Allerdings nicht, wenn er selbst dazu kam. Aber es war nicht sicher. Eigentlich wusste sie nie genau, wann der Wechsel in Sisralls Charakter stattfand.
Wenn wir wenigstens etwas mehr zu essen hätten. Die Lebensmittel der Banditen sind schon aufgebraucht und ich hungere. Unseren gottgleichen Auserwählten scheint so etwas ja nicht zu interessieren, aber ich brauch langsam mal wieder etwas zu essen.
Yetail wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als Sisrall vor ihr stehen blieb. Nanu, schon die erste Rast, das dauert doch sonst länger? Doch als sie neben Blutklinge stehen blieb, merkte Yetail, dass es einen anderen Grund für den Halt gab.
Sie standen am Rande einer großen Höhle, die sich in der Dunkelheit verlor. Die Decke mochte irgendwo zwanzig oder mehr Meter über ihnen sein und es zweigten bestimmt vierzehn Gänge ab. Doch viel bemerkenswerter: In der Mitte der Kaverne schwebte eine Leuchterscheinung etwa einen halben Meter über den Boden. Yetail errichtete einen Schutzwall, da sie die magische Energie des Objekts spürte. Dann folgte sie Sisrall in die Höhle.
Kaum hatten sie sich ihr genähert, als sie Leuchtfigur auch schon in die Luft stieg, auf Höhe ihrer Köpfe hängen blieb und leise zu summen begann. Erst war es nur ein einzelner Ton, der aber bald darauf Worte bildete. „Soll Euch zu Khainler führen. Soll Euch zu Khainler führen.“
Yetail konnte die Erscheinung einen Moment lang nur anstarren. Dann fiel ihr wieder ein, dass ihr vermummter Befreier versprochen hatte, ihnen einen Boten zu senden, der sie zu der Armee der Khainler an der Oberfläche führen sollte. Dass das in dem Labyrinth der Unterwelt extrem schwer werden könnte, hatte sie damals nicht bedacht, aber nun wurde ihr klar, dass es eigentlich recht unwahrscheinlich war, auf dieses Ding zu treffen.
Es sei denn, sie wussten, dass wir wahrscheinlich hier vorbeikommen würden. Bei so vielen Tunneln, die hier münden, ist das auch eine gute Möglichkeit. Oder sie haben diese Boten ganz einfach an mehrere Punkte in der Unterwelt geschickt. Dass die Piraten vielleicht wusste, wo sie und Sisrall waren, wollte Yetail lieber nicht in Betracht ziehen.
„Wir kommen mit“, meinte Sisrall und trat noch einen Schritt auf die Leuchterscheinung zu, die sofort zurückwich und auf einen der Tunnel zustrebte. Also entweder sind die Khainler nicht weit weg, überlegte Yetail, während sie Sisrall folgte, der von der Leuchtfigur geführt wurde, oder sie haben eine immense Begabung darin, Magie über eine große Entfernung hinweg zu beschwören.
Sie folgten der seltsamen Leuchterscheinung fast drei Stunden lang, während diese deutlich an Leuchtkraft und Intensität gewann, als sie sich ihrem Beschwörer, also der Quelle ihrer Kraft, näherte. Die Tunnel wurden auch bald breiter und verliefen leicht ansteigend. Wir nähern uns wohl der Oberfläche, folgerte Yetail. Endlich.
Sisrall war in dieser Zeit recht schweigsam, aber daran war Yetail allmählich gewöhnt. Es gab nichts zu bereden. Die Vergangenheit interessierte ihn kaum, zumal er sich inzwischen recht vollständig erinnerte, soweit Yetail das beurteilen konnte, und über die Zukunft konnten sie sich erst Gedanken machen, wenn sie wussten, wohin die Leuchterscheinung sie führen würde beziehungsweise, was sie dort erwartete.
Auf die Antwort brauchten sie nicht lange warten. Irgendwann bemerkte sie, dass Sisrall immer angespannter wurde. Bemerkbar wurde das nur durch subtile Signale, wie leichte Zuckungen der Finger in Richtung der Waffen oder der fast unmerklich schnellere Schritt, doch Yetail entging diese Veränderung nicht. Und sie hatte inzwischen gelernt, dass sie sich auf ihren Begleiter verlassen konnte, wenn es darum ging, Gefahren zu bemerken.
Also schloss sie rasch zu ihm auf, bis sie direkt neben ihm ging und flüsterte leise, „Spürt Ihr die Khainler?“ Sie selbst konnte keine Anzeichen von ihnen entdecken, weder Geräusche, noch Spuren im Fels, die viele hundert Krieger gewiss hinterlassen würden. Ich hoffe jedenfalls, dass sie mit so vielen kommen. Sonst wird ihre Hilfe kaum mehr als der Stich eines lästigen Insektes am Rande der Streitkräfte unserer Feinde sein.
„Ja, sie sind nicht mehr weit voraus. Und es sind viele, mehr als einhundert auf jeden Fall. Aber es müssen Tausende kommen, um in Khaines Namen zu kämpfen.“
Kann er nicht auch mal eine Bemerkung machen, ohne seine Treue gegenüber Khaine zu betonen? So langsam muss er doch einsehen, dass ich durchaus bereit bin, an der Seite unseres Volkes zu kämpfen und auch zu sterben.
Und es dauerte wirklich nicht mehr lange — obwohl Yetail die Zeit viel länger vorkam in der Dunkelheit und Eintönigkeit der Tunnel —, bis sie den ersten Khainlern begegneten. Zwei Wachen standen plötzlich vor ihnen im Gang und richteten — nach einem Augenblick der Überraschung — die Hellebarden auf sie. Yetail hielt den Atem an und rechnete halb damit, dass sich Blutklinge auf die beiden Krieger stürzen würde.
„Wenn Ihr für Khaine kämpft, sind wir nicht Eure feinde.“, sprach er jedoch einfach nur. Die Khainler wechselten einen zweifelnden Blick, aber dann verlangte die Leuchterscheinung summend nach Aufmerksamkeit und einer der beiden Krieger bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Während der Mann sie durch den Tunnel und anschließend durch mehrere riesige Höhlen führte, versuchte Yetail abzuschätzen, wie viele Druchii hier wohl versammelt waren. Sie konnte nicht weit sehen, da Khainler überall umherliefen, Befehlen und Bestätigungen brüllten und sich um alle möglichen Dinge kümmerten. Aber allein in den drei Höhlen, die sie durchquerten, befanden sich mindestens achthundert Krieger und sie hatte Fackelschein in den umliegenden Tunneln bemerkt, die teilweise auch in weitere Höhlen mündeten, die weitere Soldaten beherbergen mochten.
Ob unser vermummter Retter wohl hier ist? Und wer jetzt wohl der neue Herrscher ist, nachdem Sisrall Kisilvis umgebracht hat? Ich wünschte, ich wüsste, was man mit uns vorhat. Wir sollen die Khainler begleiten, als Versicherung, dass es keine Falle ist. Hoffentlich nehmen sie uns nicht wieder gefangen und behalten uns als Geiseln. Ich bezweifle, dass uns irgendwer freilösen würde.
Erst, als die Leuchterscheinung in der dritten Höhle verblasste, fiel Yetail auf, dass sie noch dagewesen war. Ihr Führer blieb schließlich stehen und verneigte sich vor einen breitschultrigen Mann in prächtiger Rüstung, der gerade einigen Männern Befehle erteilt hatte, die nun davoneilten.
„Die beiden Fremden sind eingetroffen, Herr.“, sprach der Krieger und der Angesprochene drehte sich um. Es war Reckdis, der sie überhaupt erst in die unterirdische Stadt gebracht hatte. Offenbar hatte er das Amt seines Vaters übernommen. Oder war er nur der General dieser Streitkräfte unter dem Befehl eines anderen? Spielt das eine Rolle?,schalt sich Yetail für ihre abschweifenden Gedanken. Er scheint hier das Sagen zu haben und das heißt, wir müssen mit ihm zusammenarbeiten.
Auch der Piratenfürst schien sie zu erkennen, auch wenn er nicht zu erkennen gab, ob ihn das Wiedersehen erfreute oder ob es ihm lieber gewesen wäre, sie wären in den Tunneln gestorben.
„Bisher wurde der Handel gut erfüllt.“, bemerkte er nur und gab damit unauffällig zu erkennen, dass er um das Angebot wusste, dass die vermummte Gestalt ihnen unterbreitet hatte. „Ihr seid frei und Kisilvis ist tot. Die Nauglir haben ihn regelrecht zerfetzt, es war ein tragischer Unfall.“ Er klang nicht so, als würde er diesen Vorfall wirklich bedauern.
„Das war der erste Teil, nicht wahr? Und nun sind wir hier. Eintausendfünfhundert Krieger haben wir mitgebracht. Und natürlich unsere Bestien, die das Rückgrat unserer Armee bilden. Es reicht, wenn Ihr wisst, dass es so ziemlich alle sind, die wir haben. Mit Ausnahme der Seedrachen natürlich. Also ist unser Teil des Handels erfüllt worden. Seid Ihr nun bereit, Eure Seite zu erfüllen? Meine Männer werden ungeduldig.“
Sisrall nickte und Yetail überließ ihm wie üblich das Sprechen. „Ich vermute, dass es eine Weile dauern wird, Eure Armee in diesen Tunneln bereit zu machen. Wir werden die Zeit nutzen, um uns auszuruhen. In sechs Stunden sind wir bereit, Euch an die Oberfläche zu begleiten und dort mit Euch nach Naggarond in die Schlacht ziehen.“
Der Piratenfürst legte den Kopf schief und nickte dann. „Sechs Stunden, aber nicht viel länger.“, erwiderte er knapp und wandte sich einigen Kriegern zu, die um Aufmerksamkeit baten. Plötzlich fiel Yetail etwas auf, dass sie schon eine Weile beschäftigte, ohne dass sie bisher hätte sagen können, was ihr so seltsam vorkam: Die Khainler hatten die ungeheure Macht, die Sisrall verströmte, gar nicht wahrgenommen, obwohl ihre Sturmrufer mächtige Magier waren.
Auch die junge Zauberin spürte seine unnatürliche Magie nur deshalb, weil sie bereits daran gewöhnt war. Offenbar hat er gelernt, sie zu verbergen. Sie zuckte die Schultern. Er war schon vorher in Magie unterwiesen worden, dazu gehörte auch das Verbergen der eigenen Stärke. Vielleicht hatte er nur länger gebraucht, um sich an die gewaltige Menge von Macht zu gewöhnen.
„Ihr seid gar nicht müde, oder?“, fragte sie so leise, dass die Khainler es nicht hören konnten.
„Ich bin nicht müde, aber auch mein Körper benötigt Ruhe. Desto länger ich mich wachhalte, desto mehr zehre ich an den Reserven und desto schneller verfalle ich. Es hat bereits begonnen.“
Damit wandte er sich ab. Yetail erschauderte. Sie hatte durchaus verstanden, was Sisrall gemeint hatte. Er würde umso schneller sterben, je mehr er sich seiner übernatürlichen Macht bediente, um die Erschöpfung beiseite zu schieben. Dass ein Wesen von solcher Macht noch immer sterblich sein sollte, überraschte sie. Irgendwie hatte sie angenommen, dass mit dem Geschenk der Marilim auch die Unsterblichkeit mit einher ging, aber so war es offenbar nicht.
Sisrall war noch nicht weit gekommen, als zwei Khainlern in stahlverstärkten Lederkhaitans und dicken Helmen durch die Menge gestürzt kamen und ihn beiseite drängte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und Yetail sah Sisrall instinktiv nach seinen Schwertern greifen. Doch schon waren die Männer vorbei und der Tempelkrieger warf ihnen lediglich zornige Blicke hinterher.
„Verzeiht, Herr“, brach es aus einem der beiden heraus, als sie vor Reckdis zum Stehen kamen.
„Erstattet Meldung!“, blaffte der nur.
„Szar’zriss!“, rief der andere. „Er hat drei Bändiger getötet und die Ketten fast zerrissen. Wir können ihn nicht halten.“ Dabei fuchtelte er mit der Hand in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren.
„Szar’zriss?“, fragte Reckdis langsam und alle Farbe wich aus seinem Gesicht, sodass es aussah wie das eines Toten.
„Was ist das?“, war Sisrall deutlich zu vernehmen. Die beiden Bestienbändiger fuhren herum und musterten ihn mit unverhohlener Ablehnung. „Wer seid Ihr?“, kam die sofortige Gegenfrage, aber Reckdis schüttelte den Kopf.
„Szar’zriss ist ein Drache. Die Krone unserer Züchtung. Er ist größer und mächtiger als jeder andere Drache. Aber er ist einfach nicht zu zähmen. Ich habe bereits versprochen, dass derjenige ihn reiten darf, dem es gelingt, ihn zu beherrschen, aber bisher bringt er alles und jeden um, der ihm zu nahe kommt. Es ist aussichtslos. Wir können ihn wohl nicht mit in die Schlacht nehmen.“
Als Yetail den Blick abwandte, war Sisrall bereits verschwunden.