So, Fortsetzung. Ehrlich gesagt, bin ich mit dem Ende nicht ganz zufrieden, aber lest selbst.
Erkenntnis
Südwestlich von Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8. Vollmond
Immer schneller wechselten die Bilder vor Yetails Augen, immer schneller glitt sie durch Sisralls Erinnerungen. Die Einblicke in seine Vergangenheit schienen keinerlei Ordnung zu folgen. Sie hatte seine Ausbildung gesehen, die Schlacht um Ghrond, Drrochaal, Viverla’atar, den Kampf gegen Szar’zrass und viele andere Dinge, die sie nicht richtig erkennen konnte.
Kurz blitzte das Bild eines Raumes auf, in dem dutzende Druchii in lockeren Kleidern knieten und den Kopf in Richtung einer Statue des Slaanesh senkten. Der Chaoskult im Herzen des Khainetempels, fuhr es ihr durch den Sinn. Aber das Bild war schon wieder verschwunden.
Sie erlebte, wie Sisrall seinen Meister Eswirl tötete. Als er ihm das Amulett vom Hals riss, stockte Yetails kurz der Atem. Es ähnelte dem ihren so vollkommen, dass sie zuerst glaubte, es wäre ihres. Ihre Hand wanderte zur Brust und umklammerte die kleine Metallscheibe. Erst als Yetail den Blick senkte, bemerkte sie das grüne Leuchten der Blutstropfen.
Als sie wieder aufblickte, sah sie sich plötzlich Sisrall gegenüber. Zuerst dachte sie, es wäre ein weiteres Bild aus seinen Erinnerungen, doch dann sah sie hinter ihm noch immer das alte Bild des Augenblickes, in dem der Tempelkrieger seinen Meister tötete.
„Ihr beobachtet also meine Erinnerungen, so wie ich bis eben Eure beobachtet habe!?“
Yetail beschloss, das Offensichtliche nicht zu bestätigen.
„Wie sind wir hierher gekommen?“
„Vielleicht solltet Ihr das unsere Meister fragen, die diese Amulette geschaffen haben.“, begann Sisrall, bevor er ihr erzählte, was im Zelt geschehen war. Yetail war sich nicht sicher, ob sie das glauben sollte. Diese Geschichte klang so unglaubwürdig wie … ja wie eigentlich alles, was sie in den letzten zwei, drei Wochen erlebt hatte. Warum diese kleine Merkwürdigkeit nicht einfach als gegeben hinnehmen?
Sie seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bild hinter Sisrall zu. Sofort verschwamm die Szene und wurde durch eine neue ersetzt. Überrascht erkannte Yetail es als eine ihrer Erinnerungen. Dann wurde ihr klar, welche Erinnerung es war und sie hätte am liebsten die Augen und Ohren verschlossen. Hier geschah alles innerhalb weniger Augenblicke, aber dennoch kam es Yetail wie eine Ewigkeit vor.
Sie hörte die klare Stimme ihrer Meisterin, als diese ihr gestand, ihre Mutter zu sein, und sah, wie der Bolzen in ihren Rücken schlug, bevor ihr erschlaffender Leib aufs Deck fiel. Als Yetails Erinnerungsbild flammende Bögen gegen die Piratenschiffe heraufbeschwor, verblasste das Bild und wurde erneut durch ein anderes ersetzt.
Yetail fand sich in einem schwach erleuchteten Raum wieder. Zwei schwarz gewandte Gestalten wirbelten vor ihren Augen umher, Metall schlug klirrend aufeinander. Die beiden Kämpfer umkreisten einander und bewegten sich so schnell, dass Yetail ihren Bewegungen nicht mehr folgen konnte. Dann erkannte sie einen der beiden Männer als die jüngere Version von Sisrall.
Sie sah zur Seite. Dort stand der Tempelkrieger, den sie kannte und beobachtete ausdruckslos die Bemühungen seines jüngeren Ich, den anderen Mann zu besiegen.
„Ist das ein Teil Eurer Ausbildung?“, wandte sie sich an ihn.
Sisrall nickte. „Ja, in diesem Raum hat mein Meister Eswirl mit mir trainiert. Dies dort ist eine Übung zum Umgang mit Dornklingen. Möglicherweise sogar der Abend, an dem ich es schaffte, ihn zu besiegen.“
Damit schwieg er und Yetail konzentrierte sich auf den wilden Kampf. Trotz der unglaublichen Schnelligkeit der beiden Kontrahenten war eine gewisse Eleganz nicht zu leugnen. Und sie waren geschickt. Nur selten unterlief eine Attacke die Deckung des Gegners und selbst dann war meistens nur das Reißen von Stoff zu hören.
Doch ganz plötzlich erstarrten beide. Sisrall hatte es geschafft, seine Faust gegen den Hals seines Gegenüber zu drücken. Hätte er eine Dornklinge gehabt, so wie Yetail sie beim älteren Tempelkrieger gesehen hatte, wäre Eswirl nun tot.
„Dachte ich es mir doch.“, begann der echte Sisrall nun wieder. Yetail wandte sich ihm zu, während die beiden Schwarzgewandten leise Worte wechselten. „Dies ist tatsächlich der Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal besiegt habe. Gleich wird er eingestehen, mir nur noch wenig beibringen zu können und mir stattdessen anbieten, mich in die Künste der Magie einzuweihen.“
Yetail riss die Augen auf. „Er beherrschte Magie? Aber das ist verboten. Woher hat er dieses Wissen?“
Sisrall zuckte mit den Schultern. „Ich war klug genug, nicht danach zu fragen. Natürlich war es verboten, deshalb hat er mich ja auch heimlich ausgebildet und vorher das Amulett erschaffen. Ich habe zwar erst vor wenigen Tagen erfahren, dass es ihm ermöglichte, mich zu beobachten, wie Eure Mutter Euch beobachtet hat. Aber er hatte mich im Griff und wusste, dass ich nichts verraten würde. Außerdem: Wem würde man wohl eher glauben: Einem unausgebildeten Novizen oder dem Meister des Tempels?“
„Aber warum hat er das für Euch getan? Die spezielle Ausbildung, das Amulett, die Rüstung und sogar die Unterweisung in Magie? Warum wart Ihr ihm so viel wert?“
„Glaubt Ihr wirklich, ich hätte mir diese Frage nicht auch schon gestellt? Ich konnte ihn nicht fragen, da ich ihn zwei Tage, nachdem ich die Rüstung erhielt, töten musste. Aber die Frage könnte ich Euch ebenfalls stellen. Warum hat Eure Meisterin Euch so bevorzugt?“
Yetail dachte an die Schiffsreise in die Unterwelt zurück.
„Das habe ich sie gefragt. Sie sagte, ich hätte von Khaine eine bedeutende Aufgabe bekommen und es sei ihre Aufgabe gewesen, mich entsprechend vorzubereiten.“
„Und weshalb sollte Eswirl nicht ebenfalls den Auftrag bekommen habe, mich vorzubereiten? Ich bin das Kind des Mordes, Yetail. Dass auch ich eine bedeutende Aufgabe in diesem Konflikt habe, ich kaum zu leugnen.“
„Aber Euer Meister hatte nicht die Gabe der Voraussicht. Außerdem findet Ihr nicht, dass es ziemlich großer Zufall ist, dass Khaine ausgerechnet diesen beiden diese Aufgaben gegeben hat, obwohl nicht einmal klar war, dass Eswirl Euer Lehrer sein würde? Es sei denn … Ist das möglich?“
„Was?“, fragte Sisrall ruhig. Yetail kaute auf ihrer Lippe. Konnte das sein? Oder war es eine Art Wunschdenken? Sah sie Dinge, die gar nicht existierten? Verbindungen, wo keine waren? Konnte sie Gewissheit erlangen?
„Wie lange lebtet Ihr im Tempel, bevor Ghrond angegriffen wurde?“, fragte sie geistesabwesend, während sie noch immer darüber nachdachte, was ihre Schlussfolgerung bedeuten mochte.
„Solange ich mich erinnern kann, wieso?“
„Und Ihr erinnert Euch nicht mehr an Eure Eltern und Ihr habt auch nichts darüber erfahren?“, erkundigte sich Yetail weiter, ohne auf seine Frage einzugehen.
„Nein, niemals. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Der Tempel war mein Zuhause. Dadurch hatte ich Vorteile gegenüber den anderen Novizen, was wohl der Grund für ihre Abneigung mir gegenüber war. Aber weshalb fragt Ihr?“
Yetail schluckte. Dann bestand wohl kaum noch ein Zweifel.
„Weil es möglich ist … Ich bin mir nicht sicher. Wo soll ich anfangen? … Erinnert Ihr Euch daran, was Erlais zu mir sagte? Wie ich entstanden bin? Sie sagte, ihr Geliebter hätte das andere Kind mitgenommen, damit sie beide den Aufgaben nachgehen konnten, die Khaine ihnen gegeben hatte.“
„Ich erinnere mich. Worauf wollt Ihr hinaus?“
„Darauf, dass Eswirl vermutlich unser beider Vater ist.“
Stille. Leere. Stille und Leere. Sisrall fühlte sich innerlich völlig taub, während um ihn herum Stille herrschte. Die Erinnerungsbilder waren verblasst und Yetail sah ihn schweigend an, wartete darauf, dass er verdaute, was sie gerade enthüllt hatte. Im ersten Moment wollte Sisrall sie auslachen. Aber als er gerade den Mund geöffnet hatte, kam ihm der Gedanke, dass diese Aussage doch irgendwie gar nicht so unmöglich war.
Was weiß ich schon von Eswirl? Soweit ich weiß, könnte er tatsächlich Erlais begegnet sein. Das wäre zwar ein höchst seltsames Paar, ein Tempelkrieger und eine Klosterhexe. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind. Er erschauderte, als eine Erinnerung an Viverla’atar in ihm aufstieg und wieder begraben wurde.
„Das heißt“, begann er, um irgendetwas zu sagen. „Ihr seid meine Schwester.“
Das war zwar ziemlich geistlos, aber diese Enthüllung musste auch erst einmal verarbeitet werden. Sisrall erinnerte sich plötzlich an die beiden Gestalten, die im Schattenreich neben Khaines Thron gestanden hatten. Die eine war eine Magierin gewesen und wenn er sich nun ihr Gesicht in Erinnerung rief und das, das er in Yetails Erinnerungen gesehen hatte, dann wurde ihm klar, wer die beiden gewesen sein musste.
Wir haben geschworen, in den Hallen des Khaine wieder vereint zu werden. Das hatte Erlais gesagt, als sie Yetail von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Dann muss die verhüllte Gestalt Eswirl gewesen sein. Und es erklärt auch, weshalb ich im Flammenbrunnen seine Stimme zusammen mit einer weiblichen gehört habe. Es sieht ganz so aus, als wären unsere Eltern im Tode tatsächlich vereint, nachdem sie Khaines Auftrag erfüllt haben.
„Ich hoffe, Ihr seid nicht enttäuscht.“, meinte Yetail und holte ihn zurück aus seinen Gedanken. Sisrall schüttelte den Kopf. „Weshalb sollte ich enttäuscht sein?“
„Weil Ihr Euren Vater ermordet habt.“
„Ob er nun unser Vater war oder nicht, er wollte fliehen. Er hat sein Schicksal selbst herausgefordert. Seid Ihr denn enttäuscht, dass Euer Bruder Euren Vater getötet hat?“
Yetail zuckte mit den Schultern. „Ich kannte ihn nicht. Und wenn Ihr glaubtet, richtig zu handeln, vertraue ich der Entscheidung des Erwählten des Khaine. Aber ich denke, es wäre an der Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren, nicht wahr? Vor uns liegt die Aufgabe, unser Volk zu retten.“
„Um den Mühen, die unsere Eltern in unsere Ausbildung investiert haben, einen Sinn zu geben? Dann lasst uns beginnen.“
Sisrall holte sein Amulett hervor, das noch immer grün strahlte, und Yetail tat es ihm nach. Vorsichtig hielten sie die Metallscheiben aneinander. Es passierte nichts. Yetail sah Sisrall an.
„Weißt du, was … “ Weiter kam sie nicht, denn plötzlich gab es einen Lichtblitz und der Rest ihres Satzes ging in einem ohrenbetäubenden Knall unter, als die Luft zwischen den Amuletten explodierte und die beiden Druchii in entgegengesetzte Richtungen davon geschleudert wurden.
Um Sisrall herum drehte sich alles und kurz flackerte die Erinnerung an seinen Flug nach dem Duell gegen Drrochaal auf. Dann stoppte die Bewegung und das Licht verblasste. Als er die Augen aufschlug, hockte er wieder in Zelt im Lager der Khainler und kniete vor Yetail, die ihn verwundert ansah. Sisrall ließ die beiden Amulette los, die er bis eben in Händen gehalten hatte.
„Wo sind wir hier?“, fragte Yetail, während sie sich aufsetze. Sisrall bewegte sich zurück auf seine eigene Decke.
„Im Kriegslager der Khainler. Sie waren so freundlich, uns ein eigenes Zelt zur Verfügung zu stellen.“
„Und wie komme ich hierher?“
„Ich habe dich getragen, Schwester.“
Yetail verdrehte die Augen und sank zurück auf ihre Schlafstätte.
„Hätte ich mir denken können.“