So, weiter gehts. Der Teil dürfte allen Untoten-Fans gefallen 😀 ... ich hoffe, sie kommen nicht zu perfekt rüber ... und ja, die Inspirationsquelle ist ziemlich offensichtlich, oder? 😉
Neues Leben
„Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.“
— Das Göttliche, Johann Wolfgang von Goethe
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8.Vollmond (5.Tag)
2 Stunden vor Sonnenaufgang
Hätte jemand Nerglot nach seinem Empfinden gefragt, hätte der Untote wohl zur Antwort gegeben: „Ich fühle mich lebendig.“ Und so war es. Seit Jahrhunderten war er zu einer Existenz zwischen Leben und Tod verdammt und er war diesem Schicksal auch jetzt nicht entronnen. Aber auf einmal kam es ihm weit weniger schrecklich vor.
Beinahe ehrfürchtig strich Nerglot über das Amulett, wie er das Gebilde für sich genannt hatte. Auf seiner Brust lagen die vier Drachensteine, jetzt zu einem einzigen, pechschwarzen Ring verschmolzen. Es war kein perfekter Kreis, sondern eher eine unförmige Raute, aber wer störte sich schon an der äußeren Gestalt, wenn das Innere grenzenlose Macht versprach? Während der Transformation hatten die Drachensteine eine Hülle aus schwarzem Kristall gebildet, die ihnen etwas Düsteres verlieh. Außerdem hatte sich eine lange, weite Schlaufe aus demselben Material gebildet, die nun um Nerglots Hals hing und das Amulett, wenn man es so nennen wollte, mit ihm verband.
Und es verband ihn mit der Welt. Es war ein Erlebnis weit jenseits jedweder Vorstellung. Nerglot fühlte sich, als könne er alles. Magie durchflutete seinen Körper und schenkte ihm ein Gefühl von Leben. Alles um ihn herum war auf einmal absolut klar und detailliert — und unglaublich zerbrechlich. Der Untote hatte das Gefühl, ein einziger, heftiger Gedanke könne die Bäume vor ihm entwurzeln.
Ein Nachtvogel flog aus der Krone des Baumes, den er eben noch betrachtet hatte. Es war ein anmutiger Jäger, doch etwas stimmte nicht. Nerglot brauchte eine Weile, bis ihm aufging, was es war: Der Vogel bewegte sich viel zu langsam. Er schien sich so zögernd durch die Luft zu bewegen, dass es ein Wunder war, dass er nicht einfach herunterfiel. Noch einen Augenblick später begriff Nerglot, dass nicht der Vogel langsamer geworden war: Er selbst war schneller geworden. Im Vergleich mit seiner Umgebung rasten seine Gedanken und seine Sinneswahrnehmungen geradezu unmöglich schnell dahin.
Nerglot sandte einen schwarzen Blitz aus und konnte sich anschließend kaum halten vor Begeisterung: Bevor er wusste, wie ihm geschah, war der Vogel schon nicht mehr als eine Wolke aus Asche, die langsam zu Boden sank. Und statt einen Verlust von Magie zu spüren, nahm Nerglot einen Anstieg seiner Kräfte war. Denn das war das Geheimnis des Amuletts: Drachensteine waren in der Lage, Magie aus der Umgebung auf ihren Träger zu übertragen. Die vereinten vier Steine nährten ihren Träger mit dem Tod. Jedes Leben, das in seiner Nähe ausgelöscht wurde, würde ihm, Nerglot, weitere Stärke einbringen. Er war so gut wie unbesiegbar.
Zufrieden mit sich und seinem Erfolg kehrte Nerglot dorthin zurück, wo der Viverla’atar zurückgelassen hatte. Auch in dieser Hinsicht waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen. Er hatte es geschafft, ihren Körper am Leben zu erhalten, während ihre Schwangerschaft mit übernatürlicher Geschwindigkeit verlaufen war. Sie nicht sterben zu lassen, während das Kind ihren Körper aufzehrte, hätte beinahe seine Kräfte überstiegen, doch er hatte nach seinen letzten Reserven gegriffen und das fast Unmögliche geschafft. Weshalb er sich derart für die junge Frau einsetzte, war ihm selbst ein Rätsel. Vielleicht hatte er es einfach satt, allein zu sein. Und wann würde er jemals wieder jemanden treffen, der bereit war, freiwillig an seiner Seite zu stehen — als beseelter Unsterblicher, nicht als untoter Sklave?
Die Geburt selbst war wesentlich schwieriger gewesen. Während sich ihre Lebensvorgänge immer mehr verlangsam hatten und Viverla’atar mehr und mehr zu einer Untoten geworden war, war ihr Körper nicht in der Lage gewesen, das Kind selbstständig und vor allem lebendig zu gebären. Nerglot hatte kurzerhand nach Viverla’atars Dolch gegriffen und ihr den Bauch aufgeschnitten. In ihrem Zustand sollte sie nicht allzu viel davon mitbekommen haben.
Als der Untote auf der kleinen Lichtung eintraf, war Viverla’atar gerade dabei, ihren Körper wiederzufinden. Nerglot kannte diese Phase noch besser als ihm lieb war. Ein Geist, der sich darauf eingestellt hatte, zu sterben, fand sich nur schwer damit ab, in den totgeglaubten Körper zurückzukehren. Außerdem stimmten die Signale der Körperteile nicht. Muskeln spürten keine Beanspruchung mehr, die Haut keine Kälte und die Lunge verlangte nicht nach Sauerstoff. Am verwirrendsten aber war das Fehlen des Herzschlages und des Fließens von Blut. Da ein Lebender den eigenen Blutfluss und auch den Herzschlag im Allgemeinen kaum wahrnahm, stellte es den neugeborenen Untoten vor große Probleme, das Gefühl dieses Mangels zu verstehen. Nicht wenige Untote verloren dabei den Verstand oder ergaben sich einfach in ihr Schicksal. Sie verwandelten sich entweder in hirnlose Monster oder in starre Leichname, die so lange ruhig lagen, bis sie trotz aller Magie letztendlich verwesten.
Viverla’atar war gerade dabei, ihre motorischen Fähigkeiten zu erlagen, erkannte Nerglot. Finger krümmten sich, ihre Brust hob und senkte sich, als sie aus reiner Gewohnheit atmete, und gelegentlich versuchte sie reflexartig, nach etwas zu schlagen, dass sich dort gar nicht befand. Nerglot kannte auch dieses Erlebnis. Es war eine Folge der gesteigerten Sinne des Untoten, von Ohren, die nicht mehr durch das Rauschen des Blutes beeinträchtigt wurden, und von der überempfindlichen Haut. Viverla’atar hörte vermutlich Geräusche, deren Quellen sich mehrere Meter weit entfernt befanden, oder spürte die sanften Berührungen der Luft und glaubte, etwas befände sich direkt vor oder gar über ihr, so nah, dass die Reflexe des Körpers automatisch abwehrend reagierten.
Meist waren dies auch die letzten instinktiven Bewegungen eines Untoten. Da der Körper eigentlich nicht mehr lebte, verlor er auch schnell das Bedürfnis, sich zu schützen oder in anderer Weise ohne die Anweisung des Geistes zu arbeiten. Oder zumindest hatte ich geglaubt, dass alle Reflexe verloren gehen würden, korrigierte sich Nerglot, als ihm der Kampf gegen Darmal wieder einfiel.
Schließlich versteiften sich die Muskeln in Viverla’atars Körper und Nerglot verstand: Ihr Geist hatte die Kontrolle übernommen und die instinktiven Verhaltensmuster unterbunden. Ganz plötzlich schlug sie die Augen auf. Sofort schrie sie auf und ihre Augen weiteten sich unnatürlich. Zuckungen liefen durch ihren Körper, als ihr Geist, unfähig die tausendfach intensiveren Eindrücke zu verarbeiten oder auch nur zu verstehen, in Panik verfiel.
„Schließ die Augen!“, befahl Nerglot. Das hatte er zwar nicht vorhergesehen, aber er verstand, was geschehen war. In seinem Fall war er in einer dunklen Höhle aufgewacht, über sich nur Fels und Gestein. Der Anblick war zwar ebenso verwirrend gewesen, aber er hatte es recht schnell geschafft, sich daran zu gewöhnen. Viverla’atar jedoch lag auf dem Rücken im nächtlichen Wald. Ihre Blicke durchbrachen mühelos das Blätterdach, registrierten jedes Detail, jeden Tautropfen, jede Blattlaus — und sandten ihr gleichzeitig Eindrücke aus den unendlichen Tiefen des Sternenhimmels. Für sie war er ein leuchtendes Zelt mit so verwirrender Tiefe, dass sie sich leicht darin verlieren konnte.
Aber sie gehorchte und ihr Körper beruhigte sich. „Dreh dich um.“, wies Nerglot sie etwas ruhiger an. Die junge Frau gehorchte abermals und legte sich auf Bauch. Ihre Wunde hatte Nerglot vor der Verwandlung soweit behandelt, dass nur eine lange dünne Narbe übrig war.
„Sehr schön. Jetzt stütz dich auf die Ellenbogen und öffnete langsam die Augen. Der Anblick des Bodens müsste angenehmer sein.“ Nerglot verspürte keine Befriedigung, als sie seinen Anweisungen widerspruchslos folgte, sondern etwas, das er kaum für möglich gehalten hatte: Mitleid. Er wusste, wie es dieser neugeborenen Unsterblichen ging. Nur zu gut erinnerte er sich selbst an den Schock, als er zum ersten Mal die Weite des Himmels gesehen hatte. Und das war am Tag gewesen, der Nachthimmel war noch viel verwirrender. Daher verspürte er nun den Wunsch, Viverla’atar mit seinen Erfahrungen zu helfen und ihr auf ihren ersten Schritten im neuen Leben zu helfen.
Sie zuckte zusammen, als sie die Augen öffnete, aber nun konnte sie nur knapp drei Handbreit weit sehen und der Anblick des Grases — wenn auch viel detailreicher als mit sterblichen Augen betrachtet — wurde von ihrem Geist doch schnell mit bekannten Erinnerungen in Verbindung gebracht. Nerglot beschwor die Winde der Magie und schuf ein undurchsichtiges Kraftfeld um die Lichtung. Dann bat er Viverla’atar den Blick zu heben.
Wie erwartet, fiel der Wechsel schwer, aber sie lernte schnell. Nerglot musste sich eingestehen, dass er beeindruckt war — und zufrieden: Er hatte seine Kräfte nicht vergeudet. Sie würde eine würdige Unsterbliche sein. Nach nur wenigen Sekunden war ihr Blick nicht mehr panisch, sondern wanderte neugierig über die Baumstämme am Rande der Lichtung vor ihr. Langsam schob Nerglot das Feld weiter weg und gewährte ihr so immer mehr Sicht in die Tiefen des Waldes. Schließlich zerstörte er das Feld. Viverla’atar blieb ruhig. Ganz langsam und vorsichtig schließlich hob sie den Blick in den Himmel. Abermals zuckte sie zusammen, doch sie senkte den Blick nicht. Ihr Mund öffnete sich staunend, als sich ihr eine Pracht darbot, die sie vorher niemals hätte erahnen können. Nerglot ließ ihr einige Minuten Zeit, sich an dem Anblick sattzusehen.
„Es ist Zeit, aufzustehen.“, meinte er dann ruhig. Sofort reagierte Viverla’atar. Doch sie versuchte, wie ein Sterblicher aufzustehen und flog in die Luft, als sie zu viel Kraft aufwandte. Verwunderte trat sie wild um sich und schlug dann wieder auf den Boden. Noch einmal probierte sie es und schien dieses Mal zu wissen, was sie zu tun hatte: Mitten in der Luft drehte sie sich um und landete dann etwas wackelig, aber aufrecht auf den Füßen. Nerglot lachte laut auf.
„Das sah wirklich beeindruckend aus. Aber ich habe noch nie einen Unsterblichen gesehen, der das Problem der übermäßigen Kraft auf diese Weise gelöst hat. Die meisten von uns geben sich damit zufrieden, die Füße unter den Körper zu ziehen und dann aufzustehen.“
Viverla’atar hörte ihm vermutlich gar nicht zu. Sie war damit beschäftigt, Nerglot zu mustern. Der Beschwörer konnte sich gut vorstellen, dass seine entstellte Gestalt und vor allem die Stirnwunde bei der ersten Betrachtung durch die feineren Sinne eines Untoten sehr erschütternd wirken mussten. Nerglot nutzte die Zeit, um Viverla’atar seinerseits zu mustern. Ihm fiel auf, dass sie wirklich attraktiv war und ihr die Unsterblichkeit sehr gut stand. Die Blässe ihrer Haut wirkte vornehm und ihre Haltung wirkte auf einmal viel selbstbewusster. War sie schon vorher eine respektierte Anführerin gewesen, so schien sie nun unerschütterlich und strahlte eine Aura der Ruhe aus. Ihre Züge waren härter und straffer geworden, aber ihr Körper hatte trotz der anstrengenden Tortur seine deutliche Weiblichkeit nicht verloren. Am beeindruckendsten aber waren die Augen der jungen Unsterblichen: so rot wie Rubine funkelten sie in der Dunkelheit und schienen von innen heraus zu strahlen. Sie blickten klar und direkt, ohne Blinzeln oder Zucken. Es war der durchdringende Blick einer geistig gesunden Unsterblichen.
„Ihr seht wundervoll aus.“, meinte Nerglot mit einem Lächeln und meinte es sogar ernst. Viverla’atar schien kurz über seine Worte nachzudenken und erwiderte das Lächeln dann. Oder vielleicht dachte sie auch nur langsamer als er, Nerglot konnte es nicht sagen. „Danke, Nerglot. Danke für alles. Ihr habt tatsächlich Wort gehalten und mich am Leben erhalten.“
„Ich denke, es war die Mühe wert. Ihr scheint Euch recht schnell an das neue Leben gewöhnt zu haben. Mir scheint es beinahe, als sei dies viel mehr Eure Bestimmung als das Leben als Sterbliche.“
„Ihr meint, ich sollte ein Monster sein?“
„Es war Eure Entscheidung. Aber Ihr seid kein Monster, Viverla’atar. Wir sind Unsterbliche. Und Ihr seht weder heruntergekommen noch tot aus. Mich hat es im Moment des Todes und kurz danach einfach viel schlimmer erwischt, Euer Körper hat kaum gelitten. Ihr seid einfach nur etwas blass.“
Nerglot bemerkte die unmerkliche Entspannung in Viverla’atars Zügen. Ihr Blick wanderte über ihren Körper, dann ihre Hände. Als sie merkte, dass sich nicht viel verändert hatte, nickte sie erleichtert.
„Werde ich für immer so bleiben?“
„Wenn Ihr auf Euch aufpasst. Eure Kleidung, Eure Haare und Eure Haut können wie die eines Sterblichen Schaden nehmen und verdrecken. Aber Muskeln, Knochen und so weiter werden sich erhalten, wenn Ihr Euch aktiv genug verhaltet. Verharrt Ihr zu lange an einem Ort oder in einer Haltung, beginnt Euer Körper früher oder später zu verfallen.“
„Das ist mit Euch passiert, nicht wahr?“
Nerglot zögerte. Er hatte niemandem jemals vom Beginn seines zweiten Lebens erzählt. Aber was würde es schon schaden? Viverla’atar war nun seine Gefährtin, ein wenig Offenheit sollte er vielleicht zeigen.
„Nicht ganz. Nachdem mich Ephingis verwundet hatte, blieb ich auf dem Schlachtfeld liegen, am Rande des Todes. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, aber ich starb einfach nicht. Mein Körper verfiel und begann zu verwesen, aber mein Geist weigerte sich, ganz zu entschwinden. So hat mich Nagash schließlich gefunden. Seit damals bin ich so.“
Viverla’atar wirkte erleichtert. Anscheinend hatte sie gefürchtet, ebenso zu werden, wenn sie nur versehentlich zu lange innehielt. Dass Nerglot bereits vor seiner Verwandlung so verfallen war, beruhigte sie.
„Besitze ich nun magische Kräfte?“, frage sie.
„Nicht mehr als vorher. Das heißt, Ihr könnt sogar noch weniger Magie wirken als vorher, da Euer Körper einen Großteil der Kraft, die Euch zur Verfügung steht, dazu benutzt, Euch am Unleben zu erhalten. Aber Ihr wart ohnehin nie eine große Zauberin, oder?“
Sie lächelte. „Nein. Ich war Jägerin. Und ich denke, das lässt sich mit meiner neuen Existenz ganz gut verbinden. Auch wenn ich nichts mehr essen muss, oder?“
„Nein. Aber Ihr solltet Euch niemals über allzu lange Zeit von mir entfernen. Ihr seid zwar eine Unsterbliche und keine Untote, aber ein Teil der Kraft, die Euch am Leben erhält, stammt von mir, da Ihr selbst die Zauber nicht hättet wirken können, selbst wenn ich Zeit gehabt hätte, sie Euch beizubringen.“
„Dann werden wir wohl miteinander auskommen müssen.“, stellte sie nüchtern fest. Anscheinend war sie von ihrer neuen Existenz noch viel zu fasziniert, um sich darüber Sorgen zu machen, den Rest ihres Lebens mit jemandem wie ihm verbringen zu müssen. Nun, vielleicht kann ich meine Macht eines Tages dazu nutzen, meine äußere Erscheinung etwas angenehmer zu machen. Nerglot konnte es sich nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund wollte er es ihr immer noch möglichst angenehm machen.
„Was ist aus dem Kind geworden?“, fragte Viverla’atar nun. Nerglot deutete zum Rand der Lichtung. Dort lag, eingehüllt in Viverla’atars Umhang, das Neugeborene und schlief friedlich. Viverla’atar war innerhalb eines Augenblicks dort, Nerglot folgte ihr. Vorsichtig angesichts ihrer ungeheuren Kräfte hob die junge Frau das Bündel hoch. Und schrie überrascht auf.
Neues Leben
„Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Tut oder möchte.“
— Das Göttliche, Johann Wolfgang von Goethe
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8.Vollmond (5.Tag)
2 Stunden vor Sonnenaufgang
Hätte jemand Nerglot nach seinem Empfinden gefragt, hätte der Untote wohl zur Antwort gegeben: „Ich fühle mich lebendig.“ Und so war es. Seit Jahrhunderten war er zu einer Existenz zwischen Leben und Tod verdammt und er war diesem Schicksal auch jetzt nicht entronnen. Aber auf einmal kam es ihm weit weniger schrecklich vor.
Beinahe ehrfürchtig strich Nerglot über das Amulett, wie er das Gebilde für sich genannt hatte. Auf seiner Brust lagen die vier Drachensteine, jetzt zu einem einzigen, pechschwarzen Ring verschmolzen. Es war kein perfekter Kreis, sondern eher eine unförmige Raute, aber wer störte sich schon an der äußeren Gestalt, wenn das Innere grenzenlose Macht versprach? Während der Transformation hatten die Drachensteine eine Hülle aus schwarzem Kristall gebildet, die ihnen etwas Düsteres verlieh. Außerdem hatte sich eine lange, weite Schlaufe aus demselben Material gebildet, die nun um Nerglots Hals hing und das Amulett, wenn man es so nennen wollte, mit ihm verband.
Und es verband ihn mit der Welt. Es war ein Erlebnis weit jenseits jedweder Vorstellung. Nerglot fühlte sich, als könne er alles. Magie durchflutete seinen Körper und schenkte ihm ein Gefühl von Leben. Alles um ihn herum war auf einmal absolut klar und detailliert — und unglaublich zerbrechlich. Der Untote hatte das Gefühl, ein einziger, heftiger Gedanke könne die Bäume vor ihm entwurzeln.
Ein Nachtvogel flog aus der Krone des Baumes, den er eben noch betrachtet hatte. Es war ein anmutiger Jäger, doch etwas stimmte nicht. Nerglot brauchte eine Weile, bis ihm aufging, was es war: Der Vogel bewegte sich viel zu langsam. Er schien sich so zögernd durch die Luft zu bewegen, dass es ein Wunder war, dass er nicht einfach herunterfiel. Noch einen Augenblick später begriff Nerglot, dass nicht der Vogel langsamer geworden war: Er selbst war schneller geworden. Im Vergleich mit seiner Umgebung rasten seine Gedanken und seine Sinneswahrnehmungen geradezu unmöglich schnell dahin.
Nerglot sandte einen schwarzen Blitz aus und konnte sich anschließend kaum halten vor Begeisterung: Bevor er wusste, wie ihm geschah, war der Vogel schon nicht mehr als eine Wolke aus Asche, die langsam zu Boden sank. Und statt einen Verlust von Magie zu spüren, nahm Nerglot einen Anstieg seiner Kräfte war. Denn das war das Geheimnis des Amuletts: Drachensteine waren in der Lage, Magie aus der Umgebung auf ihren Träger zu übertragen. Die vereinten vier Steine nährten ihren Träger mit dem Tod. Jedes Leben, das in seiner Nähe ausgelöscht wurde, würde ihm, Nerglot, weitere Stärke einbringen. Er war so gut wie unbesiegbar.
Zufrieden mit sich und seinem Erfolg kehrte Nerglot dorthin zurück, wo der Viverla’atar zurückgelassen hatte. Auch in dieser Hinsicht waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen. Er hatte es geschafft, ihren Körper am Leben zu erhalten, während ihre Schwangerschaft mit übernatürlicher Geschwindigkeit verlaufen war. Sie nicht sterben zu lassen, während das Kind ihren Körper aufzehrte, hätte beinahe seine Kräfte überstiegen, doch er hatte nach seinen letzten Reserven gegriffen und das fast Unmögliche geschafft. Weshalb er sich derart für die junge Frau einsetzte, war ihm selbst ein Rätsel. Vielleicht hatte er es einfach satt, allein zu sein. Und wann würde er jemals wieder jemanden treffen, der bereit war, freiwillig an seiner Seite zu stehen — als beseelter Unsterblicher, nicht als untoter Sklave?
Die Geburt selbst war wesentlich schwieriger gewesen. Während sich ihre Lebensvorgänge immer mehr verlangsam hatten und Viverla’atar mehr und mehr zu einer Untoten geworden war, war ihr Körper nicht in der Lage gewesen, das Kind selbstständig und vor allem lebendig zu gebären. Nerglot hatte kurzerhand nach Viverla’atars Dolch gegriffen und ihr den Bauch aufgeschnitten. In ihrem Zustand sollte sie nicht allzu viel davon mitbekommen haben.
Als der Untote auf der kleinen Lichtung eintraf, war Viverla’atar gerade dabei, ihren Körper wiederzufinden. Nerglot kannte diese Phase noch besser als ihm lieb war. Ein Geist, der sich darauf eingestellt hatte, zu sterben, fand sich nur schwer damit ab, in den totgeglaubten Körper zurückzukehren. Außerdem stimmten die Signale der Körperteile nicht. Muskeln spürten keine Beanspruchung mehr, die Haut keine Kälte und die Lunge verlangte nicht nach Sauerstoff. Am verwirrendsten aber war das Fehlen des Herzschlages und des Fließens von Blut. Da ein Lebender den eigenen Blutfluss und auch den Herzschlag im Allgemeinen kaum wahrnahm, stellte es den neugeborenen Untoten vor große Probleme, das Gefühl dieses Mangels zu verstehen. Nicht wenige Untote verloren dabei den Verstand oder ergaben sich einfach in ihr Schicksal. Sie verwandelten sich entweder in hirnlose Monster oder in starre Leichname, die so lange ruhig lagen, bis sie trotz aller Magie letztendlich verwesten.
Viverla’atar war gerade dabei, ihre motorischen Fähigkeiten zu erlagen, erkannte Nerglot. Finger krümmten sich, ihre Brust hob und senkte sich, als sie aus reiner Gewohnheit atmete, und gelegentlich versuchte sie reflexartig, nach etwas zu schlagen, dass sich dort gar nicht befand. Nerglot kannte auch dieses Erlebnis. Es war eine Folge der gesteigerten Sinne des Untoten, von Ohren, die nicht mehr durch das Rauschen des Blutes beeinträchtigt wurden, und von der überempfindlichen Haut. Viverla’atar hörte vermutlich Geräusche, deren Quellen sich mehrere Meter weit entfernt befanden, oder spürte die sanften Berührungen der Luft und glaubte, etwas befände sich direkt vor oder gar über ihr, so nah, dass die Reflexe des Körpers automatisch abwehrend reagierten.
Meist waren dies auch die letzten instinktiven Bewegungen eines Untoten. Da der Körper eigentlich nicht mehr lebte, verlor er auch schnell das Bedürfnis, sich zu schützen oder in anderer Weise ohne die Anweisung des Geistes zu arbeiten. Oder zumindest hatte ich geglaubt, dass alle Reflexe verloren gehen würden, korrigierte sich Nerglot, als ihm der Kampf gegen Darmal wieder einfiel.
Schließlich versteiften sich die Muskeln in Viverla’atars Körper und Nerglot verstand: Ihr Geist hatte die Kontrolle übernommen und die instinktiven Verhaltensmuster unterbunden. Ganz plötzlich schlug sie die Augen auf. Sofort schrie sie auf und ihre Augen weiteten sich unnatürlich. Zuckungen liefen durch ihren Körper, als ihr Geist, unfähig die tausendfach intensiveren Eindrücke zu verarbeiten oder auch nur zu verstehen, in Panik verfiel.
„Schließ die Augen!“, befahl Nerglot. Das hatte er zwar nicht vorhergesehen, aber er verstand, was geschehen war. In seinem Fall war er in einer dunklen Höhle aufgewacht, über sich nur Fels und Gestein. Der Anblick war zwar ebenso verwirrend gewesen, aber er hatte es recht schnell geschafft, sich daran zu gewöhnen. Viverla’atar jedoch lag auf dem Rücken im nächtlichen Wald. Ihre Blicke durchbrachen mühelos das Blätterdach, registrierten jedes Detail, jeden Tautropfen, jede Blattlaus — und sandten ihr gleichzeitig Eindrücke aus den unendlichen Tiefen des Sternenhimmels. Für sie war er ein leuchtendes Zelt mit so verwirrender Tiefe, dass sie sich leicht darin verlieren konnte.
Aber sie gehorchte und ihr Körper beruhigte sich. „Dreh dich um.“, wies Nerglot sie etwas ruhiger an. Die junge Frau gehorchte abermals und legte sich auf Bauch. Ihre Wunde hatte Nerglot vor der Verwandlung soweit behandelt, dass nur eine lange dünne Narbe übrig war.
„Sehr schön. Jetzt stütz dich auf die Ellenbogen und öffnete langsam die Augen. Der Anblick des Bodens müsste angenehmer sein.“ Nerglot verspürte keine Befriedigung, als sie seinen Anweisungen widerspruchslos folgte, sondern etwas, das er kaum für möglich gehalten hatte: Mitleid. Er wusste, wie es dieser neugeborenen Unsterblichen ging. Nur zu gut erinnerte er sich selbst an den Schock, als er zum ersten Mal die Weite des Himmels gesehen hatte. Und das war am Tag gewesen, der Nachthimmel war noch viel verwirrender. Daher verspürte er nun den Wunsch, Viverla’atar mit seinen Erfahrungen zu helfen und ihr auf ihren ersten Schritten im neuen Leben zu helfen.
Sie zuckte zusammen, als sie die Augen öffnete, aber nun konnte sie nur knapp drei Handbreit weit sehen und der Anblick des Grases — wenn auch viel detailreicher als mit sterblichen Augen betrachtet — wurde von ihrem Geist doch schnell mit bekannten Erinnerungen in Verbindung gebracht. Nerglot beschwor die Winde der Magie und schuf ein undurchsichtiges Kraftfeld um die Lichtung. Dann bat er Viverla’atar den Blick zu heben.
Wie erwartet, fiel der Wechsel schwer, aber sie lernte schnell. Nerglot musste sich eingestehen, dass er beeindruckt war — und zufrieden: Er hatte seine Kräfte nicht vergeudet. Sie würde eine würdige Unsterbliche sein. Nach nur wenigen Sekunden war ihr Blick nicht mehr panisch, sondern wanderte neugierig über die Baumstämme am Rande der Lichtung vor ihr. Langsam schob Nerglot das Feld weiter weg und gewährte ihr so immer mehr Sicht in die Tiefen des Waldes. Schließlich zerstörte er das Feld. Viverla’atar blieb ruhig. Ganz langsam und vorsichtig schließlich hob sie den Blick in den Himmel. Abermals zuckte sie zusammen, doch sie senkte den Blick nicht. Ihr Mund öffnete sich staunend, als sich ihr eine Pracht darbot, die sie vorher niemals hätte erahnen können. Nerglot ließ ihr einige Minuten Zeit, sich an dem Anblick sattzusehen.
„Es ist Zeit, aufzustehen.“, meinte er dann ruhig. Sofort reagierte Viverla’atar. Doch sie versuchte, wie ein Sterblicher aufzustehen und flog in die Luft, als sie zu viel Kraft aufwandte. Verwunderte trat sie wild um sich und schlug dann wieder auf den Boden. Noch einmal probierte sie es und schien dieses Mal zu wissen, was sie zu tun hatte: Mitten in der Luft drehte sie sich um und landete dann etwas wackelig, aber aufrecht auf den Füßen. Nerglot lachte laut auf.
„Das sah wirklich beeindruckend aus. Aber ich habe noch nie einen Unsterblichen gesehen, der das Problem der übermäßigen Kraft auf diese Weise gelöst hat. Die meisten von uns geben sich damit zufrieden, die Füße unter den Körper zu ziehen und dann aufzustehen.“
Viverla’atar hörte ihm vermutlich gar nicht zu. Sie war damit beschäftigt, Nerglot zu mustern. Der Beschwörer konnte sich gut vorstellen, dass seine entstellte Gestalt und vor allem die Stirnwunde bei der ersten Betrachtung durch die feineren Sinne eines Untoten sehr erschütternd wirken mussten. Nerglot nutzte die Zeit, um Viverla’atar seinerseits zu mustern. Ihm fiel auf, dass sie wirklich attraktiv war und ihr die Unsterblichkeit sehr gut stand. Die Blässe ihrer Haut wirkte vornehm und ihre Haltung wirkte auf einmal viel selbstbewusster. War sie schon vorher eine respektierte Anführerin gewesen, so schien sie nun unerschütterlich und strahlte eine Aura der Ruhe aus. Ihre Züge waren härter und straffer geworden, aber ihr Körper hatte trotz der anstrengenden Tortur seine deutliche Weiblichkeit nicht verloren. Am beeindruckendsten aber waren die Augen der jungen Unsterblichen: so rot wie Rubine funkelten sie in der Dunkelheit und schienen von innen heraus zu strahlen. Sie blickten klar und direkt, ohne Blinzeln oder Zucken. Es war der durchdringende Blick einer geistig gesunden Unsterblichen.
„Ihr seht wundervoll aus.“, meinte Nerglot mit einem Lächeln und meinte es sogar ernst. Viverla’atar schien kurz über seine Worte nachzudenken und erwiderte das Lächeln dann. Oder vielleicht dachte sie auch nur langsamer als er, Nerglot konnte es nicht sagen. „Danke, Nerglot. Danke für alles. Ihr habt tatsächlich Wort gehalten und mich am Leben erhalten.“
„Ich denke, es war die Mühe wert. Ihr scheint Euch recht schnell an das neue Leben gewöhnt zu haben. Mir scheint es beinahe, als sei dies viel mehr Eure Bestimmung als das Leben als Sterbliche.“
„Ihr meint, ich sollte ein Monster sein?“
„Es war Eure Entscheidung. Aber Ihr seid kein Monster, Viverla’atar. Wir sind Unsterbliche. Und Ihr seht weder heruntergekommen noch tot aus. Mich hat es im Moment des Todes und kurz danach einfach viel schlimmer erwischt, Euer Körper hat kaum gelitten. Ihr seid einfach nur etwas blass.“
Nerglot bemerkte die unmerkliche Entspannung in Viverla’atars Zügen. Ihr Blick wanderte über ihren Körper, dann ihre Hände. Als sie merkte, dass sich nicht viel verändert hatte, nickte sie erleichtert.
„Werde ich für immer so bleiben?“
„Wenn Ihr auf Euch aufpasst. Eure Kleidung, Eure Haare und Eure Haut können wie die eines Sterblichen Schaden nehmen und verdrecken. Aber Muskeln, Knochen und so weiter werden sich erhalten, wenn Ihr Euch aktiv genug verhaltet. Verharrt Ihr zu lange an einem Ort oder in einer Haltung, beginnt Euer Körper früher oder später zu verfallen.“
„Das ist mit Euch passiert, nicht wahr?“
Nerglot zögerte. Er hatte niemandem jemals vom Beginn seines zweiten Lebens erzählt. Aber was würde es schon schaden? Viverla’atar war nun seine Gefährtin, ein wenig Offenheit sollte er vielleicht zeigen.
„Nicht ganz. Nachdem mich Ephingis verwundet hatte, blieb ich auf dem Schlachtfeld liegen, am Rande des Todes. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, aber ich starb einfach nicht. Mein Körper verfiel und begann zu verwesen, aber mein Geist weigerte sich, ganz zu entschwinden. So hat mich Nagash schließlich gefunden. Seit damals bin ich so.“
Viverla’atar wirkte erleichtert. Anscheinend hatte sie gefürchtet, ebenso zu werden, wenn sie nur versehentlich zu lange innehielt. Dass Nerglot bereits vor seiner Verwandlung so verfallen war, beruhigte sie.
„Besitze ich nun magische Kräfte?“, frage sie.
„Nicht mehr als vorher. Das heißt, Ihr könnt sogar noch weniger Magie wirken als vorher, da Euer Körper einen Großteil der Kraft, die Euch zur Verfügung steht, dazu benutzt, Euch am Unleben zu erhalten. Aber Ihr wart ohnehin nie eine große Zauberin, oder?“
Sie lächelte. „Nein. Ich war Jägerin. Und ich denke, das lässt sich mit meiner neuen Existenz ganz gut verbinden. Auch wenn ich nichts mehr essen muss, oder?“
„Nein. Aber Ihr solltet Euch niemals über allzu lange Zeit von mir entfernen. Ihr seid zwar eine Unsterbliche und keine Untote, aber ein Teil der Kraft, die Euch am Leben erhält, stammt von mir, da Ihr selbst die Zauber nicht hättet wirken können, selbst wenn ich Zeit gehabt hätte, sie Euch beizubringen.“
„Dann werden wir wohl miteinander auskommen müssen.“, stellte sie nüchtern fest. Anscheinend war sie von ihrer neuen Existenz noch viel zu fasziniert, um sich darüber Sorgen zu machen, den Rest ihres Lebens mit jemandem wie ihm verbringen zu müssen. Nun, vielleicht kann ich meine Macht eines Tages dazu nutzen, meine äußere Erscheinung etwas angenehmer zu machen. Nerglot konnte es sich nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund wollte er es ihr immer noch möglichst angenehm machen.
„Was ist aus dem Kind geworden?“, fragte Viverla’atar nun. Nerglot deutete zum Rand der Lichtung. Dort lag, eingehüllt in Viverla’atars Umhang, das Neugeborene und schlief friedlich. Viverla’atar war innerhalb eines Augenblicks dort, Nerglot folgte ihr. Vorsichtig angesichts ihrer ungeheuren Kräfte hob die junge Frau das Bündel hoch. Und schrie überrascht auf.
Zuletzt bearbeitet: