Vision
„Die Unwissenheit über die Zukunft ist die Furcht der Sterblichen. Doch jene, deren Geist weiter sieht, nennen sie einen verlorenen Segen. Denn das Wissen um Künftiges ist grauenvoll.“
— Aus Der Pfad der Druchii, Ularsa Schicksalsweg
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8.Vollmond (5.Tag)
Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang
Reckdis fuhr zu Yucalta herum, die angespannt und steif neben ihm hockte und mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit jenseits der Stadtmauern starrte. Ein Zittern lief durch ihren Körper und für einen Augenblick glaubte der Piratenfürst, einen Hauch Magie um ihren Leib wahrzunehmen, doch der Eindruck verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Und mit ihm verschwand auch die Spannung aus Yucaltas Körper. Sie sackte vollkommen kraftlos in sich zusammen und keuchte leise. Ihre Hand fiel von Reckdis Arm, den sie bis eben noch schmerzhaft fest umklammert hatte.
„Was ist?“, fragte Reckdis beunruhigt.
„Wir sind in Gefahr.“, flüsterte die Novizin mit gebrochener Stimme. Sie erhob sich wankend und starrte angespannt in die Dunkelheit. „Dort wird sehr mächtige Magie von einer Art gewirkt, die mir fremd ist. Magie, deren Ziel unser Untergang ist.“
Reckdis starrte sie an. Die junge, unerfahrene Novizin war nicht mehr wiederzuerkennen. Sie sprach mit einer Stimme, als hätte sie schon hundertmal dem Tod ins Auge geblickt. Doch sosehr er sich auch konzentrierte, er spürte keine Zauber, weder jenseits der Stadtmauern noch innerhalb. „Ich glaube, Ihr täuscht Euch, Yucalta. Ich spüre gar nichts. So ein mächtiger Zauber würde mir doch gewiss nicht verborgen bleiben.“
Sie blinzelte, als versuche sie, die Bilder eines Traums abzuschütteln, und wandte sich dann langsam in Richtung Reckdis um. Dem Piratenfürst lief ein Schauer über den Rücken. Dieses Verhalten war eindeutig nicht normal. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass die Soldaten die Hände in der Nähe ihrer Schwertgriffe hatten.
„Meine magischen Sinne sind um ein Vielfaches feiner als Eure, Herr.“, belehrte ihn Yucalta mit überraschendem Selbstvertrauen. „Ich weiß, dass Ihr das gestern Nachmittag auch erkannt habt. Und selbst für mich ist dieser Zauber nur als fernes Ziehen zu spüren.“
Sie wandte sich wieder der Dunkelheit zu. „Dort ist etwas, das unsere Sinne benebelt und den Zauber verbirgt. Ich habe versucht, diesen Schutz zu durchbrechen, doch jeder Zauber, den ich innerhalb des Nebels erschaffen will, wird einfach verschluckt. Ihr habt gesehen, wie sehr ich mich verausgabt habe, ohne dass etwas geschah. Und dann habe ich …“
Yucalta stockte und wandte sich wieder zu Reckdis um. Auf einmal war ihre Haltung weicher und ihr Gesicht weniger starr. Sie erinnerte mehr an die Novizin, die sie noch bis vor wenigen Minuten gewesen war.
„Bitte.“, flehte sie. „Ich bitte Euch, Reckdis, vertraut mir. Nur dieses eine Mal. Ihr habt doch gestern Nachmittag selbst erkannt, dass meine magischen Sinne weit feiner sind als Eure. Und mit diesem Nebel stimmt etwas nicht. Ich kann nicht hindurchsehen, er verschluckt sämtliche Magie. Dahinter ist jemand oder etwas, der starke Zauberei wirkt. Ich spüre es, doch nur ganz schwach. Der Nebel verbirgt den Zauber vor uns.
Gestern habt Ihr mir vertraut, dass ich meine Aufgabe erfülle. Ohne mich währt Ihr inzwischen tot, Reckdis. Vertraut mir auch jetzt, ich bitte Euch. Nur dieses eine Mal. Wenn ich mich irren sollte, werde ich Euch niemals wieder unter die Augen treten, aber wenn nicht, könnte unser Schicksal davon abhängen, dass wir jetzt rasch handeln. Wir müssen die Stadt und uns vorbereiten.“
Reckdis musterte die junge Frau. Angst stand in ihren Augen und sie schien wirklich von einer Gefahr überzeugt zu sein. Aber konnte er es verantworten, nur wegen des Gefühls einer Novizin die gesamte Stadt in Alarmbereitschaft zu versetzen? Doch konnte er sie andersherum einer möglichen Gefahr schutzlos ausliefern?
Er versuchte, in Yucaltas Augen die Wahrheit zu erkennen. Doch was er dort sah, ließ ihn zusammenzucken. Es waren nicht die Augen einer jungen Frau. Diese Augen hatten mehr als nur eine Schlacht gesehen, sie kannten Tod und Untergang ganzer Völker. Hinter diesen Augen stand kein verwirrter Geist, sondern ein klarer Verstand, der all seine Hoffnungen an ihn, Reckdis, knüpfte. Und noch etwas sah der Piratenfürst: Yucalta hütete ein finsteres Geheimnis, sie wusste etwas, das sie nicht preisgeben konnte. Doch nicht aus Selbstsucht, sondern weil dieses Wissen gefährlich war.
Schließlich wandte sich Reckdis von Yucalta ab und drehte sich in Richtung Feuer, wo ihn die erwartungsvollen Blicke der Soldaten erwarteten. Reckdis konnte nicht sagen, wie viel des Gespräches zwischen ihm und Yucalta sie verstanden hatten, aber sie schienen zu spüren, dass eine wichtige Entscheidung bevorstand.
„Schlagt Alarm.“, entschied Reckdis kurz. Die Mienen der Soldaten zeigten Verwirrung, doch sie gehorchten. Einige sprangen auf, andere weckten ihre schlafenden Kameraden. Nur einer, ein Krieger aus Naggarond, rührte sich nicht.
„Weshalb? Weil eine Novizin ein komisches Gefühl hat?“, fragte er Reckdis. Die anderen Soldaten erstarrten und beobachteten angespannt die Szene. Reckdis bemühte sich, keine Emotion zu zeigen. Er trat langsam auf den Krieger zu, der sich nun erhob. Er überragte den Piratenfürsten um gut einen Kopf.
„Nein, Soldat.“, wies ihn Reckdis an. „Sondern weil ich es dir sage!“
„Ihr seid nicht mein König, Pirat!“
„Wäre ich ein einfacher Pirat“, entgegnete Reckdis betont ruhig, „dann würde ich dir jetzt die Kehle durchschneiden oder dich am Mast aufhängen lassen. Ich bin ein Fürst der Druchii, genau wie dein König. Genau wie Malekith bin ich ein von Khaine berufener Führer unseres Volkes. Verweigerst du mir den Gehorsam, begehst du Ketzerei am Gott mit den Blutigen Händen. Möchtest du vielleicht erfahren, wie Khaine mit Verrätern umgeht?“
Die kaum verhohlene Drohung ließ den Soldaten schlucken, doch anscheinend war er kein sehr gläubiger Mensch, dafür ein treuer Anhänger des Hexenkönigs. „Ihr habt kein Recht, Euch auf die gleiche Stufe wie Fürst Malekith zu stellen. Hätte Khaine Euch dazu auserwählt, über die Druchii zu herrschen, müsstet Ihr Euch nicht in der Unterwelt verkriechen.“
Er schien noch mehr sagen zu wollen, doch in diesem Moment geschah etwas Seltsames. Yucalta trat an Reckdis vorbei, ihr Gesicht schien von Schatten bedeckt zu sein und ihre Augen zeigten Trauer und Entschlossenheit. Ein hauchzarter Schein ging von ihrer Handfläche aus. Als sie dem Soldaten, der noch immer zornig auf Reckdis hinab starrte, die Hand auf den Arm legte, durchlief ein Zittern den muskulösen Körper des Kriegers.
Vor Reckdis und den übrigen Soldaten, die das Schauspiel mit zunehmender Verwirrung beobachteten, stieß der Mann ein Wimmern aus und sank in sich zusammen, bis sein gekrümmter Körper kleiner war als Reckdis. Er schlug seine Hände vors Gesicht und zitterte am ganzen Leib. Yucalta hatte ihre Hand schon längst wieder zurückgezogen.
„Haltung, Soldat!“, fuhr Reckdis den Mann an. Das half. Durch den militärischen Ton in die Wirklichkeit zurückgerissen, richtete sich der Krieger augenblicklich auf. Es dauerte zwei Herzschläge, dann sah er Reckdis mit strammer Haltung an. Doch seine Augen verrieten, dass er noch immer nicht verarbeitet hatte, was soeben mit ihm geschehen war. Unwillkürlich flackerten seine Blicke und schienen sich unablässig überzeugen zu wollen, dass alles um ihn herum echt war — und dass Yucalta ausreichend weit entfernt stand.
„Verzeiht, Herr. Ich werde dafür sorgen, dass Eure Anweisungen erfüllt werden.“
Schon wandte er sich ab und blaffte die anderen Soldaten an, die augenblicklich in Hektik verfielen und die Treppen des Turms hinabeilten. Bald erscholl ein Warnsignal und auch auf den anderen Türmen und in den Kriegslagern beiderseits der Mauer kam Bewegung in die Soldaten, die zu ihren Waffen griffen, aufsprangen und den Alarm weitertrugen. Innerhalb von weniger als hundert Herzschlägen war die Mauer in Alarmbereitschaft und aus den Zelten strömten die Krieger. Die Autarii, die außerhalb der Stadt gelagert hatten, preschten nach wenigen Minuten mit komplett abgebauten Zelten durchs Stadttor, das anschließend geschlossen und gesichert wurde. Aus den Kasernen strömten weitere Soldaten in Richtung Stadtmauer und auch in der Festung entstand Bewegung.
„Danke.“, meinte Yucalta. Reckdis fuhr herum. Über die Ereignisse der letzten Minuten hatte er vergessen, dass sie immer noch neben ihm stand. Und dann fiel ihm wieder ein, was soeben geschehen war.
„Verratet Ihr mir, wie Ihr das gemacht habt?“, fragte er ungehalten. Die Art, wie der kräftige Krieger zusammengebrochen war, war ihm unheimlich. Yucalta zuckte die Schultern.
„Ich habe ihm gezeigt, was geschehen wird, wenn wir nicht schnell handeln.“
Reckdis starrte sie an. „Wollt Ihr damit sagen, Ihr hattet eine Vision?“
„Ich weiß es nicht. Wie gesagt, ich habe mich damit verausgabt, einen Zauber innerhalb des Nebels wirken zu wollen. Und dann formten sich die Winde der Magie ganz plötzlich zu einem Bild. Eigentlich wollte ich es niemandem zeigen, weil es einfach zu schrecklich ist. Möchtet Ihr es trotzdem sehen?“
Reckdis zögerte. Er hatte Angst, ebenso die Kontrolle über sich zu verlieren, wie der Soldat. Anderseits wollte er Yucaltas dunkles Geheimnis kennenlernen und sehen, was sie in solche Panik versetzt und derart verändert hatte. Wenn er es wusste, würde es vielleicht leichter mit seinem Gewissen vereinbar, dass er gerade allein auf die Worte einer Novizin vertrauend die gesamte Stadt mit ihren fast zehntausend von der Schlacht geschwächten Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Mit dem Gedanken, dass es vermutlich ein törichter Fehler war, nickte er.
Yucaltas, von einem feinen goldenen Schein umhüllten Hände streiften seine, ihre sorgenvollen Blicke bohrten sich in seine und dann explodierte ein Bild in Reckdis Geist. Aschebedeckte Hügel zogen sich, soweit das Auge reichte, rauchende Baumstümpfe wiesen die Orte, wo ehemals stolze Wälder gestanden hatten. Der Gestank nach Tod und Rauch war atemberaubend, ebenso die Hitze, die über der Szenerie lag.
Die Form der Hügel und der Wälder zeigte, dass es sich um das Schlachtfeld der Viermächteschlacht handelte. Doch von Naggarond, der mächtigsten Stadt Naggaroth‘ waren nur brennende Trümmer übrig. Berge von Staub und Gesteinssplittern zeigten an, wo einst die Stadtmauer gestanden hatte, von den meisten Gebäuden waren nur rußgeschwärzte Flächen auf der Erde übrig. Und in der Ferne stand der Frostturm in hellen Flammen. Die Festungen der Adligen, der Khainetempel und das Kloster waren schon weit herabgebrannt. Und auf dem Platz vor dem Frostturm lag ein gewaltiger schwarzer Drache und mühte sich vergeblich auf die Beine. Blut floss in einem dünnen Strom aus seiner Brust, sammelte sich zu einer schwarzen, stinkenden Pfütze und ließ seine Bewegungen immer langsamer und kraftloser werden.
Und neben dem Drachen lag noch ein zweiter: Tiefrot und ebenso groß wie der schwarze, gepanzert mit goldenen Rüstungsteilen lag die Bestie ausgestreckt und leblos am Fuße des Frostturms. Große Wunden zogen sich über seine Flanken, die Flügel waren zerfetzt und der Kiefer gespalten. Gekettet an die Mauern der Zitadelle hingen elf Leichen. Es waren die Kinder des Mordes.
Neben den Überresten von Szar’zriss lag Bluthand, ihr schöner Körper verbrannt und verstümmelt. Eine gewaltige Kraft hatte ihr die Gliedmaßen gebrochen und den Oberkörper zerschmettert. Nicht weit daneben stützte sich Morathi, die Hexenkönigin, entkräftet gegen die Flanke des schwarzen Drachens. Auch ihr Körper war von Brandwunden bedeckt und blutüberströmt. Ihr linker Arm hing nutzlos an ihrer Seite.
Vor der Hexenkönigin kniete Malekith, den behelmten Kopf in Richtung einer Gestalt in schwarzer Robe gereckt, die das Schwert Zerstörer in der rechten Hand hielt und damit zum letzten Schlag ausholte. Von der Gestalt war nicht mehr als die Silhouette zu erkennen und es schien, als würde ein magischer Nebel sie verbergen. Vor Bluthands Leiche stand Blutklinge in seiner schwarzen Rüstung, doch am Ende seiner Kräfte: Sein rechter Arm war nur noch ein blutiger Stumpf, sein Oberkörper von zahllosen blutenden Wunden bedeckt und sein Bein wies einen langen Schnitt oberhalb des Knies auf. Ein Hieb hatte seinen Helm mit einem breiten Riss gespalten und ihm das linke Auge zerfetzt.
Seine Gegnerin war eine junge Frau, deren vollkommener, beinahe nackter Körper von Blut bedeckt war. Ihre Haut schien hart wie Eis zu sein und ihre roten Haare flatterten Wild. Sie lächelte ein atemberaubend schönes, verträumtes und glückliches Lächeln, während sie Blutklinge die Klinge in die Kehle stieß. In diesem Moment war das Bild eingefroren und zeigte mit abscheulicher Deutlichkeit den Tod des letzten Kind des Mordes und die Niederlage des Hexenkönigs.
Komm zurück, Reckdis, flüsterte eine vertraute warme Stimme in seinem Geist und schob das grässliche Bild beiseite. Reckdis konzentrierte sich auf diesen Klang und fand sich in der Wirklichkeit wieder. Das Feuer brannte immer noch, doch es schien jetzt viel näher. Dann ging ihm auf, dass er auf den Knien hockte und seine rechte Hand schmerzhaft fest um das Heft seines gezogenen Schwertes gekrallt hatte. Yucaltas kühle Finger lagen in seinem Nacken und verdrängten die Panik, die ihn angesichts des eben Erlebten zu überkommen drohte. Mit Mühe verdrängte er die Erinnerung und erhob sich. Noch immer wankte er unter der Wucht des Bildes.
„Wie haltet Ihr das aus?“, flüsterte Reckdis entsetzt. Yucalta zog ihre Hand zurück und sah ihn an.
„Für mich ist es anders. Ich kann die Vision als solche erkennen und nicht als Teil der Wirklichkeit. Es ist wie mit Träumen. Manchmal weiß man, dass man träumt. Ich hatte nicht erwartet, dass es bei anderen Druchii anders sein würde, sonst hätte ich sie dem Soldaten nicht gezeigt. Trotzdem ist der Anblick für mich ebenso schrecklich. Ihr habt gesehen, wie ich reagiert habe.“
„Wie lange habt Ihr solche Vision bereits, Yucalta?“
„Eine solche Vorahnung hatte ich noch nie. Doch es überrascht mich nicht. Irgendwie habe ich stets gewusst, dass es eines Tages soweit sein würde. Vielleicht ist das der Grund, dass es mit meinen anderen magischen Fähigkeiten nicht so weit her ist.“
„Ihr seid also eine Seherin.“, stellte Reckdis beeindruckt fest. „Wer hätte das gedacht? Hoffentlich sind Eure Fähigkeiten nicht zu spät erwacht. Könnt Ihr denn erkennen, wer die Gestalt in der Robe ist? Oder dieses Mädchen?“
Die Novizin schüttelte den Kopf. „Nein, Herr. Ich habe genau dasselbe gesehen wie Ihr auch. Ich weiß nicht mehr und nicht weniger.“
„Schade, aber vermutlich werden wir es bald erfahren. Nun gut, Yucalta. Ich hoffe, wir können dank Eurer Warnung dieses Schicksal noch abwenden. Ich möchte, dass Ihr in meiner Nähe bleibt und mich über weitere Visionen unterrichtet. Jeder Hinweis könnte entscheidend sein. Lasst uns sehen, was der Tag bringt.“
Yucalta nickte entschlossen und gemeinsam warteten sie, während um sie her die Stadt erwachte und die ersten zarten Strahlen des neuen Morgens über den Horizont krochen. Der neue Tag brach an und wie es schien, war die Schlacht noch immer nicht vorbei.