So, es geht weiter.
Attentat
„Sei niemals zu stolz, jede Chance, die dich dem Sieg näherbringt, zu nutzen. Zögere nicht einmal vor dem Mittel der Heimtücke. Ehrenhafte Verlierer schreiben keine Geschichte. Ehrlose Sieger aber werden Helden genannt.“
- Aus Kriegsweisheiten, Valen Sidon
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8.Vollmond (5.Tag)
4 Stunden nach Sonnenaufgang
Eile dich, hallten Yucaltas Abschiedsworte durch Reckdis Kopf. Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu lächeln, was der gegenwärtigen Situation einfach unangemessen wäre. Der Piratenfürst konnte nicht erklären, weshalb die geheimnisvolle Novizin eine derartige Wirkung auf ihn hatte, aber etwas an ihr ließ ihn jede Rationalität vergessen.
Seit Jahrzehnten befuhr Reckdis die Meere und er hatte lernen müssen, dass selbst nach so langer Zeit jeder Tag anders war, ein eigenes Abenteuer. Die See war eine geheimnisvolle und gefährliche Verliebte für jene, die ihr Herz und manchmal auch ihren Verstand an die unendlichen Wogen verloren. In ihrer Tiefe hausten die Meerdrachen und vielleicht noch weit finsterere Geschöpfe, für welche die Druchii nicht einmal Namen hatten. Und wer wusste schon, welche Schätze in Jahrtausenden der Seefahrt in der Dunkelheit der Ozeane verloren gegangen waren?
Begehrte er Yucalta möglicherweise, weil sie ihn an das Meer erinnerte? Geheimnisvoll, unergründlich, gefährlich und tückisch? Wer wusste schon, welche dunkle Visionen sie hinter ihrem unschuldigen Gesicht verbarg? Sie wäre eine perfekte Braut für einen Fürsten wie ihn. Jung, schön und einmalig begabt. Bei Khaine, seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden hatte es unter den Khainlern keine Seherinnen mehr gegeben und selbst die Hexenklöster konnten, soweit er wusste, keine Zauberin aufweisen, die über derartige Fähigkeiten wie Yucalta verfügt hatte. Ihre Zuneigung wäre ein unbezahlbarer Gewinn für sein Volk.
Und sie selbst wäre eine unersetzbare Frau für mich. Er dachte daran, wie sie sich an ihn schmiegte, Halt suchend, um ihren dunklen Visionen zu entkommen. Reckdis stellte sich vor, wie er seine Sturmrufer dazu antrieb, einen Zauber zu entwickeln, der seine junge Braut vor ihren finsteren Fähigkeiten schützen konnte, und wie sie ihm ihre Dankbarkeit zeigte.
Und sie wollte ihn, da war er sich sicher. Sie hatte an seinem Bett gewacht, sie hatte ihn geküsst und sie hatte ihm ins Ohr geflüstert: Du musst bald etwas sehr Wichtiges für mich tun. Etwas, wofür ich dir lange dankbar sein werde. Und welch ein Narr wäre er, eine solche Chance verstreichen zu lassen? Zumal sie von einer Seherin kam, was bedeutete, dass ihre Vorhersage mit recht großer Wahrscheinlichkeit in Erfüllung gehen würde.
Und deshalb rannte er nun über die Mauer. Die Kämpfe um ihn herum beachtete er nur flüchtig. Der Ansturm der Untoten hatte etwas nachgelassen, seit Nerglot verschwunden war. Sie waren nun dazu übergegangen, stoßweise vorzugehen. Erst sammelten sie sich, dann wurden die Leichen auf der Brüstung wiederbelebt und gleichzeitig die Verteidiger mit Pfeilen und Bolzen eingedeckt. Untote waren keine besonders guten Schützen, doch ihre schiere Zahl erlaubte es ihnen, verheerenden Schaden anzurichten.
Waren die Verteidiger in Deckung und mit den Kämpfen gegen die belebten Toten auf der Mauer beschäftigt, begann der Sturmlauf wieder. In großer Zahl und mit überraschender Geschwindigkeit rannten die Untoten gegen die Mauer an, kletterten an Ihresgleichen nach oben und sprangen wie eine Welle des Grauens über die Zinnen. Die Druchii hatten mittlerweile bittere Erfahrungen sammeln müssen: Die Untoten kämpften weder mit Raffinesse noch mit Technik, sondern wild und unkoordiniert. Doch ihre Angriffe waren dank der Magie, die ihr Unleben überhaupt erst ermöglichte, kräftig und außerdem absolut furchtlos, wenn auch recht langsam. Ein Untoter wich niemals zurück, auch wenn er schwer verwundet worden war. Und sie waren erst dann besiegt, wenn man ihre Schädel zertrümmert oder vom Rumpf abgetrennt hatte.
Eine neue Bolzensalve schoss auf den Mauerabschnitt zu, über den Reckdis momentan eilte. Gleichzeitig regten sich die toten Druchii und einige der bereits besiegten Untoten fügten sich wieder zusammen. Der Piratenfürst blieb stehen und sprach einen Zauber der Winde. Es dauerte nur einen Moment, dann erfasste eine mächtige Böe die Bolzensalve und bremste ihren Flug. In einem hellen Stakkato prallten die metallenen Spitzen der Geschosse gegen die Mauer und fielen nutzlos und mit zerbrochenen Schäften zu Boden. Einige blieben auch in den Untoten stecken, die noch immer eine lebende Leiter bildeten. Ein oder zwei Glückstreffen, bei denen Bolzen die Schädel oder Wirbelsäulen der Untoten durchschlugen führten dazu, dass Teile der Wand aus belebten Leichen zusammenstürzten und in einer Welle andere mitrissen. Als wieder Ruhe einkehrte, stand vielleicht noch ein Drittel der improvisierten Leiter an diesem Mauerabschnitt.
Ein Kind des Mordes stand in der Mitte des Abschnittes. Als die Kriegerin Reckdis bemerkten, hob sie ihre Axt zum Gruß und wies dann ihre Krieger an, die Untoten zurückzuschlagen, die sich auf der Brüstung erhoben.
Als Reckdis weitereilte, stellte sich ihm eine der Kreaturen in den Weg. Der Piratenfürst konnte den seitlichen Hieb nicht völlig parieren und das Schwert des Untoten schlug gegen die Panzerung seines linken Oberarms. Kreischender Schmerz zuckte durch Reckdis‘ linke Seite bis hinunter zur Hüfte und über beide Schultern. Beinahe hätte er das Schwert fallen lassen. Doch jahrelang antrainierte Instinkte retteten ihn. Obwohl sein Verstand in einer roten Wolke aus Schmerz ertrank, parierte sein Körper den nächsten, nach seinem Gesicht geführten Hieb und stieß dem Skelett dann die Klinge in den Schädel. Die Kreatur sackte in sich zusammen und Reckdis atmete mehrmals tief durch.
Allmählich klärte sich sein Verstand wieder und der Schmerz ging zurück. Die Betäubungsmittel, die ihm die Heiler gegeben hatten, zeigten wieder Wirkung. Nach einigen Augenblicken hatte sich Reckdis wieder soweit unter Kontrolle, dass er weitereilen konnte. Er passierte die Erwählte, die gerade scheinbar mühelos zwei Zombies in Stücke schlug, und eilte zum nächsten Turm. Oben auf der Plattform konnte er Krieger der Schwarzen Garde ausmachen und wenn er sich nicht irrte, befand sich auch Silberstich dort oben.
Reckdis erreichte den Turm und fand die Tür angelehnt. Er öffnete sie mit dem Fuß weiter und schlüpfte ins Innere. Der Raum war leer. Nein, nicht leer, aber unbelebt. Vorne an den Schießscharten lagen zwei Armbrustschützen in Lachen ihres Blutes. Der von Reckdis weiter entfernte schien von hinten enthauptet worden zu sein, der andere war durch einen Stich in die Brust gestorben. Auf seinem Gesicht war ein Ausdruck der Verwirrung und Überraschung zu sehen. Die Armbrust in seinen Händen war zersplittert.
An der Treppe zur oberen Plattform drehte sich ein Schwarzer Gardist nach Reckdis um, nickte ihm zu und stieg dann mit einem leichten Humpeln die Treppe hinauf. Reckdis verspürte ein seltsames Gefühl, doch er konnte es sich nicht erklären. Dann fiel ihm etwas auf. In der Mitte des Raumes lag der Schaft eines Bolzen. Die Spitze fehlte.
Es sah ganz so aus, als wäre der erste Armbrustschütze erschlagen worden. Der zweite hatte sich nach dem Mörder umgedreht und noch einen Schuss abgegeben. Der Mörder hatte dann den Schaft aus seinem Körper gezogen, wobei die Spitze zurückgeblieben war. Doch am Schaft war kein einziger Spritzer Blut. Doch wenn der Mörder ein Untoter gewesen war, dann hätte ihn der Schwarze Gardist erschlagen. Und es gab keine Spur von einer Leiche.
Dann ging ihm auf, was ihn so stutzig gemacht hatte: Der Gardist humpelte zwar, doch nicht stark genug. Sein ganzes Bein war gequetscht, als sei es unter einem Pferd eingeklemmt worden. Er dürfte überhaupt nicht mehr gehen. Außerdem fiel Reckdis jetzt das dunkle Loch ein, das er in der Brust des Gardisten gesehen hatte. Er hatte es für einen Schatten oder einen Blutfleck gehalten, doch jetzt war ihm alles klar.
„Verflucht bei allen eisigen Wogen!“, fluchte der Piratenfürst und eilte dem Gardisten nach. Doch kaum hatte er die Hälfte der Treppe erklommen, als vor ihm ein Schatten auftauchte. Er hörte das Pfeifen einer Klinge, die durch Luft schnitt, und warf sich reflexartig herum. Er bekam einen heftigen Treffer an der linken Schulter und vor Schmerz wurde ihm schwarz vor Augen. Dann schlug etwas mit großer Kraft gegen seinen Unterleib. Reckdis krümmte sich zusammen und die Rüstung kreischte protestierend. Ein Tritt gegen den Oberkörper schleuderte ihn von den Füßen und ließ ihn scheppernd gegen die Wand fliegen. Am Rande der Bewusstlosigkeit rutschte er zu Boden, irgendwo hörte er sein Schwert klirrend auf die steinerne Treppe schlagen und mehrere Stufen hinunterspringen. Auch der Piratenfürst rollte hinab, ohne sich rühren zu können. Zehn Stufen, die ihm wie tausend vorkamen, krachte er hinab, bei jeder zweiten begrub er seinen verletzen Arm unter sich. Unendliche Pein loderte durch seinen ganzen Körper.
Schließlich blieb er reglos liegen und versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Sein Atem ging rasselnd und er glaubte, Blut zu schmecken. Die verbogene Rüstung drückte in seinen Bauch und sein Arm schien in Flammen zu stehen.
Ich weiß nicht, was du dort finden wirst, aber es muss wichtig sein. Ich vertraue dir. Mit einem Schlag klärte sich sein Bewusstsein, als die Schmerzen von anderen Emotionen verdrängt wurden. Yucalta vertraute ihm. Sie hatte ihn hierher geschickt, damit er etwas Wichtiges tat. Er musste diesen Gardisten aufhalten. Das war der Grund.
Stöhnend rappelte er sich auf. Er konnte nicht gerade stehen, so verzogen war die Rüstung an seinem Unterleib. Bedauernd löste er die Schnallen und ließ den Teil der Panzerung zu Boden fallen. Der Rest schien einigermaßen intakt zu sein. Nur sein Bauch war jedem Angriff ausgeliefert. Das leichte Kettenhemd, das er unter der Rüstung trug, würde den Hieb eines Untoten nicht abwehren können.
Schwindel überkam ihn, als er sich die Treppe hinauf mühte, das Schwert wieder in der Hand. Er stützte sich an der Wand ab und schleppte sich weiter. Er verdrängte jeden Gedanken außer an den nächsten Schritt und an seinen Gegner. Mit jedem Schritt fühlte er sich besser und Wut durchströmte ihn. Der brennende Hass verbannte den Schmerz und auch die Furcht.
Schließlich erreichte er überraschend das Ende der Treppe und fühlte den leichten Wind, der ihm entgegen wehte. Kurz überlegte er, ob ein Helm in dieser Situation vielleicht hilfreich wäre. Aber er hatte schon immer mit freiem Kopf gekämpft. Er brauchte nur einen Augenblick, um sich zu orientieren.
Vier Schwarze Gardisten standen auf dem Dach des Turms. Eine der Gestalten erkannte er als Silberstich, die Kriegsherrin der Druchii in dieser Schlacht. Sie stand nahe der Brüstung zu dem Mauerabschnitt, über den Reckdis soeben gekommen war. Zwei ihrer Krieger standen an der vorderen Brüstung, jeder an einer Ecke, und beobachteten aufmerksam das Treiben der Untoten vor der Mauer.
Die vierte Gestalt stand nun direkt hinter Silberstich, die lange Hellebarde erhoben, als wäre es ein Speer. Kein Sterblicher sollte eine derart schwere Waffe mit einer Hand so halten können. Silberstich drehte sich um. Anscheinend hatte sie die Schritte des Gardisten gehört und wollte dessen Bericht in Empfang nehmen.
Reckdis wusste, was geschehen würde und er wusste auch, dass er es nicht mehr verhindern konnte. Ein Schrei verließ seine Lippen und er setzte sich in Bewegung, doch es gab keine Rettung mehr. Die Hellebarde glitt beinahe anmutig durch die Luft und bohrte sich mühelos durch Silberstichs Rüstung. Reckdis sah, wie sich ihr Körper zusammenkrümmte und wie die Wucht des Treffers sie nach hinten schleuderte, während die Klinge der Waffe in ihre Brust eindrang. Kurz sah Reckdis das Aufblitzen von Metall und hörte das Kreischen zerreißenden Silberstahls, als die Klinge Silberstichs Rücken verließ. Dann wurde die Herrin der Schwarzen Garde über die Brüstung gerissen und fiel, sich einmal überschlagend, auf den Mauerabschnitt unter ihr.
Reckdis rannte wutentbrannt auf den Gardisten zu, doch der kümmerte sich nicht um ihn. Gleichgültig wandte er sich ab und griff den Krieger an, der ihm am nächsten stand. Der Schwarze Gardist zögerte, anscheinend wusste er nicht, was er mit dem Mann machen sollte, den er zuerst für einen Mitstreiter hielt.
Dann war der Angreifer heran, entriss dem verdutzten Gardisten die Hellebarde und beförderte ihn mit einem kräftigen Tritt gegen den Oberschenkel über die Mauer. Die Schreie des Kriegers brachen rasch ab, als er auf den entfernten Boden traf. Der letzte Schwarze Gardist griff den Verräter nun an und Reckdis versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. Doch bevor die beiden Kontrahenten aufeinanderprallten, wandte sich der untote Gardist dem Piratenfürsten zu.
Verwirrt wich Reckdis zurück, in der Hoffnung, der letzte lebende Gardist würde dem Untoten in den Rücken fallen. Doch kaum hatte dieser einen Schritt in Richtung seines Kontrahenten gemacht, flog er gegen die Brüstung. Seine Hände ließen die Hellebarde fallen und griffen nach seinem Hals, aus dem ein langer Bolzen ragte. Der Schwung des Geschosses schleuderte ihn gegen die Zinnen, wo er regungslos liegen blieb.
Verdammt, sind wir denn völlig von Verrätern umgeben?, ging es Reckdis durch den Sinn, dann sah er sich der Hellebarde des Gardisten gegenüber. Die polierte Klinge blitzte im schwachen Sonnenlicht, als sie auf ihn zuschoss und Reckdis blieb nichts Anderes übrig, als die Herausforderung anzunehmen und zu hoffen, dass ihn der geheimnisvolle Schütze in seinem Rücken nicht vorzeitig umbringen würde.