Hallo Keep. Schön, einen neuen Leser zu haben. Nakago liest ja mittlerweile auch mit.
Und damit ich meine anderen treuen Leser nicht verliere, beende ich die Pause jetzt endlich.
Was aus Nerglot wird, verrate ich noch nicht. Erstmal geht es mit unseren lieben Nebencharakterinnen weiter.
Lob und Kritk wie immer wollkommen,
Gerettet
„Das Herz kennt weder Volk noch Land,
ist Schönheit doch überall bekannt,
von Gold und Weib.“
[FONT="]— [/FONT]Unbekannter Dichter
Naggarond; Naggaroth
2567 IC; 8.Vollmond (5.Tag)
7 Stunden nach Sonnenaufgang
Sie fühlte sich frei. Schwerelos glitt Yucalta durch ein Meer aus Licht. Die Ströme der Magie umspielten ihren Geist, stupsten sie zärtlich mal in die eine Richtung, zogen sie mal sanft in eine andere, wirbelten sie um die eigene Achse und flüsterten zu ihr. Ihre Lebenskraft strahlte wie ein Leuchtfeuer, das die arkanen Flüsse anzog. Und Yucalta konnte sie verstehen.
Sie brachten ihr Visionen und Geschichten. Sie umgarnten sie, streichelten ihren Geist und sprachen zu ihr. Sie ließ sich treiben und lauschte. Die Winde raunten von fernen Landen und fremden Völkern. Sie zeigten ihr Bilder von gleißenden Wüsten und endlosen Meeren, von weiten Steppen und hohen Bergen, von Hügeln aus Eis und unendlichen Wäldern. Von Tieren und Pflanzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, von prächtigen Bauten und Städten.
Yucalta sah Vergangenheit und Zukunft, sie erblickte Zerstörung und Aufbau, Heilung und Mord, Asche und Leben. Die Ströme zeigten ihr, wie die Druchii versagten, wie die Kinder des Mordes untergingen und mit ihnen Naggarond. Wie eine dunkle Wolke breitete sich das Verderben von der gefallenen Hauptstadt über das ganze Land aus und griff von Naggaroth aus über das Meer hinweg. Nacheinander fielen die Reiche der Elfen und der Menschen. Die unterirdischen Imperien der Zwerge wurden ausgelöscht und nicht einmal die Orks konnten dem Untergang entkommen.
Yucalta fühlte Trauer in sich aufsteigen. Doch was konnte sie tun? Die Winde zeigten ihr die Zukunft, in der die mächtigen Kinder des Mordes scheiterten. Ihre eigenen Fähigkeiten waren unbedeutend im Vergleich zu ihrer Stärke. Yucalta ließ sich treiben. Für sie gab es keine Aussicht mehr. Ihr Körper lag im Sterben oder war vielleicht auch schon vernichtet. War dies möglicherweise das Leben nach dem Tod? Würde ihr Geist nun für immer durch das Reich der Magie schweben und die Welt beobachten? Wenn das so war, weshalb sich dann überhaupt Sorgen machen? Kurz fragte sie sich, wie sie denn gestorben war, doch der Gedanke verblasste bald im Flüstern der Magie um sie herum.
Sie hatte das Gefühl, davon zu schweben, immer leichter zu werden, eins zu werden mit den verspielten Winden um sie herum. Ihr Geist zerfaserte ganz allmählich und vermischte sich mit den unendlichen Bewegungen der Ströme, Strudeln und Wellen der Magie. Glück und Freude durchfluteten Yucalta, während sie sich mehr und mehr dem Wispern der Magie hingab.
Von einem Augenblick zum anderen verschwanden die Flüsse aus Licht und eine Dunkelheit umfing sie, die ruhig und tröstend zugleich war. Yucalta glaubte, zu fallen, doch es war kein Sturz, der sie in Panik versetzt hätte, eher ein sanftes Hinabgleiten im Nichts. Sie fühlte sich geborgen und gab sich der Stille hin. Es war eine andere Art des Loslassens. Kein Verblassen ihres Geistes bis zum Tod, sondern der Frieden des Schlafes.
Als Yucalta schließlich langsam erwachte, glaubte sie, tot zu sein. Sie fühlte keinen Schmerz, obwohl sie sicher war, dass dort welcher sein sollte. Sie hörte das Flüstern der Magie nicht mehr in ihrem Kopf, das ihr zuletzt fast den Verstand geraubt hätte. Und sie fühlte sich geborgen.
Doch wie kam sie eigentlich darauf, dass sie tot sein könnte? Kaum hatte ihr verschlafener Verstand die Frage formuliert, kehrte auch schon die Erinnerung mit aller Macht zurück. Ein Strudel von Bildern stürzte auf sie ein. Die Maske des Gesichtslosen, eine verschwommene, blasse Gestalt, Reckdis, der sie anlächelte, Reckdis, der tot auf der Treppe lag, scharfe Krallen, die ihre Haut zerschnitten. Und das Gesicht. Das blasse, deformierte, eingefallene Gesicht mit den Augen voll wahnsinnigem Verlangen und zwei Reihen scharfer Zähne im Mund. Einem Mund, der bereit war, ihre Kehle zu zerfetzen.
Yucalta kreischte laut und wollte um sich schlagen, um das Bild zu vertreiben, doch ein sanfter Druck hielt ihre Hände zurück. „Psst, beruhige dich!“, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr, so rein und vollkommen, dass ihr für einen Augenblick der Atem stockte. Die schreckliche Erinnerung schien zu schrumpfen.
Als Yucalta die Augen öffnete, blickte sie in ein Gesicht, so schön, dass ihr kein Vergleich einfiel. Sanfte, dunkle Augen bildeten einen angenehmen Kontrast zu dem weißgoldenen Leuchten, das von der makellosen Haut auszugehen schien. Blonde Haare flossen wie Bäche über die vollen Wangen und betonten die Lippen, die sich nun zu einem unwiderstehlichen Lächeln formten.
„Ich muss tot sein.“, hauchte Yucalta. „Bist du ein Engel?“ Zu ihrer Überraschung lachte die andere Frau. Das Geräusch schien die Luft selbst zum Strahlen zu bringen. So rein und klar floss das Lachen über Yucalta hinweg, dass sie glaubte, in flüssigem Gold zu baden. Ohne dass sie es beabsichtig hätte, lächelte sie selbst.
„Nein. Du bist nicht tot.“, antwortete das Mädchen und wurde wieder ernst.
„Aber das Monster; der Gesichtslose? Ich dachte, er …“, begann Yucalta, doch ein Finger legte sich auf ihre Lippen und sie verstummte. Die Haut der anderen Frau war seltsam. Sie hatte dieselbe Temperatur wie Yucaltas, war weder warm noch kalt, aber vollkommen glatt und weich. Und doch fühlte die junge Druchii die Festigkeit dieser Haut. Eine kaum zu erahnende Härte verbarg sich unter der zarten Oberfläche. Und sie leuchtete von innen heraus mit einem hellen, weißgoldenen Schimmer. Die Zauberin fühlte sich an Schnee erinnert, der auf einer festen Eisschicht lag, ebenmäßig, unberührt und weich.
„Sprich nicht von ihm. Er ist vernichtet, doch ist die Erinnerung an dieses Wesen auch für mich schrecklich.“ Yucalta nickte. Auch wenn es sie interessierte, was geschehen war, so konnte das warten.
„Aber wer bist du?“, fragte sie und wieder antwortete ihr das strahlende Lächeln.
„Nenn mich Yerill.“
„Ich bin Yucalta. Bluthands Novizin und seit heute die Seherin der Druchii.“, erklärte sie ein wenig stolz. Dann, nach einem kurzen Zögern fragte sie weiter.
„Wenn du kein Engel bist, was bist du dann?“ Das Lächeln verblasste und eine tiefe Traurigkeit erfüllte die dunklen Augen. „Ich bin ein Monster.“ Erst, als sie plötzlich von ihr abrückte, merkte Yucalta, dass Yerill bis eben eng an sie geschmiegt neben ihr gelegen hatte. Sie hatte die Nähe der anderen Frau nicht bemerkt, doch jetzt fehlte sie ihr plötzlich. Ihre Haut fühlte sich kalt und tot an.
„Nein, warte.“, flüsterte die Novizin und legte ihre Hand auf Yerills Schulter. Ihr Blick wanderte über Yerills vollkommenen, sanft leuchtenden Körper und ihr stockte der Atem. Die Tücher, die sie um Brust und Hüfte gebunden hatte, konnten nichts verbergen.
Die andere Frau schüttelte den Kopf. „Du wirst mich hassen.“ Sie blickte auf ihre Hände, die zwischen ihnen auf dem Fell lagen. Erst jetzt beachtete Yucalta ihre Umgebung soweit, dass sie merkte, dass ein zweites Fell ihre Beine und ihren Unterleib bedeckte. Sie lagen auf dem Boden des Gemachs von Blutklinge und Bluthand. Das Bett, auf dem sie bis vor Kurzem noch gesessen und gelesen hatte, war zerstört, ebenso die Wand dahinter. Yucalta trug noch immer ihren Mantel, doch war er zerfetzt und blutverkrustet.
Sie nahm Yerills Hände in ihre. Die junge Frau schien sie zurückziehen zu wollen, überlegte es sich aber anders, als sie Yucaltas Entschlossenheit spürte.
„Ich werde dich nicht hassen. Du hast mich gerettet vor diesem Alptraum. Erzähl mir, warum du dich ein Monster nennst, Yerill.“, bat sie. Die andere Frau sah sie nicht an, als sie antwortete. Obgleich es tonlos klang, war ihre Stimme dennoch wie ein warmer Lichtschein, der Yucaltas Herz wärmte.
„Ich bin wie er; vom Chaos geschaffen. Mein Innerstes ist kalt und meine Haut aus Eis. Mein ganzes Leben habe ich mich nach dem Blut von Sterblichen gesehnt, um meinen eigenen Körper zu wärmen. Verstehst du? Ich habe getötet, deinesgleichen, für euren Feind, Nerglot. Und nicht nur ein paar. Ich weiß nicht mehr, wie viele ich abgeschlachtet habe. Dutzende, Hunderte … ich weiß es nicht mehr.“ Sie verstummte und Yucalta blickte sie lange an. Sie wartete darauf, dass sie Abscheu oder Hass empfinden würde, doch alles, was sie fühlte, waren Zuneigung und Mitleid.
„Warum hast du mich dann nicht getötet?“, fragte sie. Yerill sah sie erstaunt an und Yucalta bewunderte den Anblick dieser dunklen Augen. „Du bist anders. Deine Lebenskraft ist … besser. Und du hast so viel. Sie sickert aus dir heraus. Es reicht, dich zu berührten, um dieses Licht aufzunehmen. Und mein Körper verhindert, dass ich es wieder verliere. Du bist wie ein Feuer für mich, wärmend und leuchtend. Wenn ich dich ansehe, sehe ich keine Mischung aus Farben, sondern reines goldenes Licht.“
Sie seufzte und schien für einen Augenblick die Furcht vor Yucaltas Abneigung vergessen zu haben. Die Novizin brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, wovon Yerill sprach. Die junge Frau konnte Auren sehen, so mühelos wie Yucalta mittlerweile die Winde der Magie betrachten konnte.
Und plötzlich fiel ihr auf, dass etwas fehlte. Bevor der Gesichtslose sie angegriffen hatte, hatte sie ununterbrochen Bilder und Eindrücke durch die arkanen Ströme bekommen. Seit sie ihre Fähigkeiten mithilfe des Buches geweckt hatte, hatte sie sich kaum retten können vor Einblicken in die Zukunft und die Vergangenheit.
Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an das Gefühl, eins zu werden mit den arkanen Winden. In jenem traumähnlichen Zustand hatte sie Glück verspürt, jetzt schauderte sie bei der Erkenntnis, wie knapp sie daran gewesen war, ihren Geist aufzugeben. Das Buch hatte sie vor der Gefahr gewarnt. Wenn sie sich den Strömen zu sehr hingab, würde sie irgendwann die Kontrolle verlieren und nicht mehr in ihren Körper zurückfinden. Ihr Bewusstsein würde verblassen und ihr Körper sterben. Sie war nur ganz knapp diesem Schicksal entkommen.
Sie erinnerte sich, wie sich die Winde plötzlich zurückgezogen und sie im Dunkeln zurückgelassen hatten. Doch weshalb? Warum war ihr Geist auf einmal vor den arkanen Flüssen geschützt? Sie dachte daran, wie das Buch ihr das Sehen erklärt hatte. Ein Seher brauchte eine ganz bestimmte Eigenschaft: Sehr viel Lebenskraft, mehr als sein Körper halten konnte. Damit war nicht die Kraft gemeint, die Magier zum Zaubern benutzten, sondern die Energie, die ihre Muskeln und Organe zum Arbeiten brauchten. Die Energie, die sie am Leben erhielt.
Sie hatte also mehr Lebenskraft, als sie eigentlich brauchte. Und damit konnte sie die Winde der Magie anlocken. Die überschüssige Energie war, richtig verwendet, wie ein Leuchtfeuer für die Ströme, die sich nur so darauf stürzten. Sie raubten Yucalta ihre Lebenskraft nicht, aber sie suchten ihre Nähe. Und brachten ihr dabei die Eindrücke aus Raum und Zeit, die sie brauchte, um sehen zu können.
Hatte sie jedoch einmal damit begonnen, die Winde anzulocken, gab es kein Halten mehr. Das Buch hatte ihr beschrieben, dass sie ihren Geist schützen musste, um nicht von den Eindrücken schier überrannt zu werden. Doch offenbar hatte der Autor selbst damals über wesentlich weniger innere Kraft verfügt. Yucalta war von der Macht der Visionen jedenfalls dermaßen überwältigt worden, dass sie keinen mentalen Schild hatte aufbauen können.
Sie war sich inzwischen sicher, dass die überschüssige Kraft, mit der sie die Winde anlocken konnte, dieselbe war, die Yerill beschrieben hatte. Und vielleicht war das die Erklärung für die plötzliche Stille. Die mysteriöse junge Frau nahm Yucaltas Kraft in sich auf, sodass sie für die Ströme nicht mehr zu sehen war.
„Was denkst du?“, unterbrach Yerills Stimme ihre Überlegungen. Die junge Frau klang nervös und niedergeschlagen. Anscheinend fürchtete sie Yucaltas Urteil. Die Novizin legte ihr eine Hand auf die Wange und schaute sie direkt an. Einen Augenblick war sie überwältigt von dem Gefühl der Haut unter ihren Fingern, dann sprach sie leise und deutlich.
„Ich brauche dich.“ Und sie erklärte Yerill, was sie eben erkannt hatte. Die junge Frau hörte aufmerksam zu und schien mühelos zu verstehen. Interesse und Faszination zeichneten sich auf ihren schönen Zügen ab. Yucalta berührte diese offene Zuschaustellung von Gefühlen.
Schweigen breitete sich nach ihrer Erklärung aus. Es war Yerill, die als erste wieder sprach. „Aber wie kannst du mir so nahe sein, ohne Abscheu zu empfinden? Ich kämpfe für Nerglot und meine ganze Existenz ist falsch. Mein Körper ist untot und meine Haut vom Chaos geschaffen. Von dem elfischen Fleisch in mir ist nichts mehr übrig. Ich bin ein Monster, nicht besser als der andere.“
Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht und schien zu weinen. Ihr Körper bebte unter lautlosen Schluchzern. Yucalta legte ihr eine Hand auf den Kopf und fragte sanft:
„Aber wenn du dich so schlecht dabei fühlst, wieso tust du es dann?“
„Weil ich muss. Könntest du widerstehen, Pflanzen und Tiere zu töten, um deinen Hunger zu stillen? Ich brauche keine Nahrung wie ihr. Ich kann sie nicht einmal aufnehmen, wenn ich es wollte. Aber ich brauche Kraft von Lebenden, damit mein Körper nicht erstarrt. Ich will nicht so werden … so kalt und … tot.“ Sie schauderte und zitterte angesichts der Vorstellung. Yucalta zog es vor, das Thema zu wechseln. Doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Yerill fort.
„Am Anfang wollte ich das. Ich verdanke mein Leben Unsterblichen. Ich freute mich darüber, für sie kämpfen zu können und gleichzeitig in dieser Kraft zu baden. Aber irgendwann fing es an, mich zu langweilen. Und außerdem fühlte es sich falsch an. Ich habe die Druchii beobachtet und kam nicht umhin, sie zu bewundern. Sie kämpfen trotz ihrer Schwäche. Sie glauben an etwas und sei es nur daran, dass sie nach der Schlacht ihr Leben weiterführen können.“
Sie zögerte und blicke Yucalta direkt in die Augen.
„In meinem Leben gibt es nichts Vergleichbares. Ich habe allein aus Gier getötet. Aus dem erbärmlichen Wunsch heraus, mich selbst zu stärken. Und weil ich es konnte. Es war so einfach, sie waren alle so schwach. Das Gefühl war unwiderstehlich.“
„Aber was hast du vorher gemacht?“, fragte Yucalta, die noch immer vergebens auf ein Gefühl der Furcht wartete. „Ich meine vor der Schlacht?“ Yerill blickte sie nur fragend an.
„Davor habe ich versucht, so viel wie möglich zu lernen. Und ich bekam Waffen. Ich habe auch ein paar Tiere getötet. Das reichte. Mein Körper hatte noch zu viel Elfisches, sodass er noch nicht so erstarrt ist. Das setzte erst ein, seit ich nicht mehr wachse. Und da kam auch der … Durst. Die Sucht nach Kraft. Wie gut, dass es von da an nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang gedauert hat.“
„Du meinst, du hast erst ausgerechnet heute aufgehört zu wachsen?“
„Ja natürlich. Wann denn sonst?“
Ein ungutes Gefühl beschlich Yucalta. „Wie alt bist du, Yerill?“
„Vierzehn Stunden, glaube ich.“
Die Druchii konnte nicht anders, als die junge Frau anzustarren und sie abermals zu mustern, um sich zu vergewissern. Aber Yerills Körper war noch immer der eines Mädchens von siebzehn oder achtzehn Jahren. Das war nicht möglich.
„Das heißt, du bist in …“ Sie rechnete kurz nach. „… vier Stunden so viel gewachsen, wie normale Kinder in anderthalb dutzend Jahren?“ Die andere zuckte nur mit den Schultern. Natürlich, für sie war es nichts Besonderes.
„Und wenn du sagst, du wächst nicht mehr … meinst du dann, dass du dich gar nicht mehr veränderst?“ Yerill nickte nur. Yucaltas ungläubiger und zweifelnder Ton schien sie zu beunruhigen, sodass sie es nicht wagte, laut zu sprechen. Vermutlich fürchtete sie, die Druchii doch noch zu verschrecken.
„Tut mir leid, Yerill.“, meinte Yucalta. „Ich muss das nur alles erst einmal verarbeiten. Es passiert nicht alle Tage, dass man neben einer Frau aufwacht, die aussieht wie ein Engel, sich für ein Geschöpf der Hölle hält, nicht mal einen Tag alt, dafür aber unsterblich ist.“ Sie versuchte ein schiefes Lächeln, das aber zu einer Grimasse geriet.
Yerill blickte sie unsicher an, schien aber Verständnis zu haben. Yucalta argwöhnte, dass sich ihr Bewusstsein nicht ganz so schnell wie ihr Körper entwickelt hatte. Sie war intelligent, keine Frage. Aber in ihrem Verhalten spiegelte sich etwas Naives, Kindhaftes. Sie war noch dabei, die Welt zu entdecken. Die Druchii spürte den Wunsch, das Mädchen zu beschützen. Bescheuert, wenn man bedenkt, dass sie mir gerade das Leben gerettet hat.
„Aber was wirst du jetzt tun?“, kehrte Yucalta zum ursprünglichen Thema zurück. Alles andere war einfach zu verrückt. „Solange ich dir Kraft gebe, brauchst du doch keine Druchii mehr zu töten, oder?“
„Ja, aber das wird doch nicht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es freiwillig ertragen würdest, dich regelmäßig von mir berühren zu lassen. Und außerdem werden mich alle von deinem Volk töten wollen.“ Sie stockte. „Vielleicht sollte ich einfach verschwinden und versuchen, mit der Kraft von Tieren zu überleben.“
„Nein, bitte nicht.“, rief Yucalta schockiert, doch Yerill war schon aufgesprungen. Einen Moment lang stand sie unschlüssig über der liegenden Druchii und blickte abwechselnd zu ihr und zur Tür. Durch die Unterbrechung der Berührung war Yucaltas Lebenskraft für die magischen Ströme wieder sichtbar, wenn auch nur eingeschränkt. Ein einzelnes Bild tauchte in ihrem Geist auf und verschwand sofort wieder, als sie Yerills Fußgelenkte umfasste und versuchte, sie festzuhalten. Doch ihre Kraft würde nicht ausreichen, das spürte sie.
Dann erstarrte Yucalta, als ihr Verstand das Bild analysierte, welches der einzelne magische Strom ihr gesandt hatte. „Oh nein.“, hauchte sie. Ihre schreckensweiten Augen blickten starr ins Nichts. „Wir müssen hier weg. Sofort!“
Sie hatte viel zu leise gesprochen, um sich selbst zu hören, und eigentlich nichts zu erreichen gehofft. Sie wusste, dass es keine Rettung mehr gab. Sie würden es niemals aus dem Tempel schaffen. Doch vor ihr verschwamm Yerill plötzlich zu schemenhafter Bewegung, riss Yucalta hoch und im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, zu fallen. Es gab einen schrecklichen Augenblick, in dem sie realisierte, dass sie sich in der Luft befand; sie sah den Turm des Khainetempels von außen und grauen Himmel darüber. Die Öffnung des Balkons blieb über ihr zurück.
Dann fuhr ein Ruck durch ihren Körper und presste ihr die Luft aus den Lungen. Ihr wurde schwarz vor Augen und ein Stöhnen drang an ihr Ohr. Yerill! Doch bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, fielen sie erneut. Dieses Mal kam der Ruck schneller und weniger heftig. Yucalta spürte, wie sie im selben Moment herumgewirbelt wurde, in dem Yerill sich rückwärts abstieß. Wieder sausten sie durch die Luft, ohne dass Yucalta eine Chance gehabt hätte, sich zu orientieren. Sie hörte das Splittern von Glas, bevor ein erneuter Aufschlag ihre Zähne aufeinanderschlug. Sie rutschten ein Stück – es klang wie ein Stein, der über Eis schlitterte.
Dann endlich war es ruhig. Als Yucalta die Augen öffnete, drehte sich alles und Übelkeit breitete sich in ihrer Magengegen aus. Ihr Kopf brummte und trotz der Stille glaubte sie noch immer, das Rauschen der Luft in den Ohren zu hören. Alles, was sie erkennen konnte, war eine glatte, leuchtende Fläche mit dunklen Formen darauf. Fliesen?, fragte sie sich zweifelnd. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr gemarterter Verstand das Bild richtig scharf stellen konnte. Sie lag bäuchlings auf Yerill, die Yucaltas Kopf an ihre Brust gepresst und die Arme schmerzhaft fest um Yucaltas Rücken geschlungen hatte. Die dunklen Linien waren die Konturen ihres Oberarms und ihrer Schulter gewesen, die das Blickfeld der Druchii verdeckten.
Als Yucalta den Kopf ein wenig drehte, erkannte sie einen Boden aus dunklem Marmor. Scherben lagen um sie herum und glitzerten schwach.
Durch das Rauschen in ihren Ohren machte sie plötzlich ein fernes Donnern aus, dem erst ein Augenblick quälender Stille und dann ein ohrenbetäubendes Krachen folgten. Das Gebäude um sie herum erbebte, als tausende Tonnen Stein zerbrachen und in sich zusammenfielen. Das triumphierende Brüllen von Szar’zriss irgendwo am Himmel war ein leises Krächzen gegen den Lärm, der sich erschreckend nah erhob. Sie hatte das Gefühl, die Welt selbst bräche auseinander. Es schien Ewigkeiten zu dauern, in denen das Bersten und Donnern anhielt, doch schließlich kehrte eine grauenvolle Ruhe ein. Staubschwaden wehten heran, reizten ihre Nase und ließen sie husten. Irgendwo rollten ein paar Steine.
Sie brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, was geschehen war. Ihre Vision hatte es ihr gezeigt. Der mächtige, imposante, magisch verstärkte Turm des Khainetempels, in dem sie sich vor wenigen Augenblicken noch befunden hatte, war dem Duell zwischen Bluthand und Nerglot zum Opfer gefallen.