Ich habe mir gerade noch die "hart aber fair"-Ausgabe angesehen, ich kann ja leider derzeit kein ARD empfangen und musste deswegen auf die Möglichkeit des Web-TVs zurückgreifen: an dieser Stelle noch ein großes Lob an die Redaktion, die das so schnell bereitgestellt hat, das empfinde ich als sehr angenehm.
Ich muss gleich zu Beginn einräumen, dass mir Herr Sarrazin doch leid tat ob der z.T. böswilligen Replikansätze, die - zumindest nach meinen bisherigen Informationen - sein Buch nicht hergibt. Insbesondere Sevindim hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sie das Buch entweder nicht gelesen oder nicht verstanden hat (für sich in Anspruch genommen haben übrigens sowohl Sevindim wie Friedmann, das ganze Buch gelesen zu haben, Baring meint, er habe es "zu großen Teilen" durchgearbeitet). Nun werden sich sicherlich einige wundern, dass ich Sarrazin vor den Kritikern in Schutz nehme: es ist richtig und auch notwendig, auf die Verquertheit der hereditären Annahmen hinzuweisen. Das ist auch sofort zu Anfang der Sendung getan worden - allerdings zog sich schablonenartig durch die Diskussionsrunde, dass mit persönlichen Beispielen die Korollarien Sarrazins zur Integrationsdebatte "widerlegt" wurden, Sevindim rezitierte andauernd das Tremolo ihrer Familiengeschichte und der Muslime, die sie ja kenne und deren Hauptthema beim Fastenbrechen selbstverständlich Bildung sei. Das ist der Tod jedweden Parlamentarismus (wer die Reminiszenz erkennt, wird von mir in höchsten Tönen geehrt werden
😉) wie auch des offenen Diskurses: auf statistisches Stuckwerk wird mit der Formel gekontert, es werden ja die ganzen leuchtenden Einzelschicksale unterschlagen. Das ist selbstredend so, das ist ja Sinn des ganzen Manövers, ergo ist diese Litanei das Arsen unter den Stilmitteln einer Erörterung.
Naturgemäß hatte Sarrazin die meisten Beiträge in der Diskussion, was auch verständlich ist. Dass er aufgrund seiner Apoplexie kein mitreißender Redner ist und (ob da eine Ätiologie besteht, weiß ich nicht) zu einer gewissen Palilalie neigt (das ist jedenfalls nicht unüblich), ist bereits erwähnt worden. Bedauernswert ist, dass er zu einer ausgeprägten Intransigenz neigt und beispielsweise immer noch nicht den Unterschied zwischen seinem "Alle Juden (und Basken) teilen ein bestimmtes Gen"-Postulat und der Theorie vom Aaron des Y-Chromosoms erkennen kann oder will und sogar noch der "Welt", die das entsprechende Interview mit ihm geführt hat, unterstellt, sie habe ihn in die entsprechende Richtung gedrängt, führt nicht eben dazu, dass die schweren Vorwürfe diesbezüglich sich auflösten. Argumentativ bleibt er, wie NightGoblinFanatic es schon bemerkte, seltsam ungenau und spricht lieber davon, dass er Fakten referiere, die eben so seien, anstatt Roß und Reiter oder auszugsweise Statistiken zu nennen. Eine echte Struktur vermag er nicht zu bilden. Auf die Anschuldigung hin, sein letztes Kapitel sei an Defätismus und Xenophobie schwerlich zu übertreffen, entgegnet er, dieses sei satirisch konzipiert. Das kann ich (noch) nicht beurteilen, sollte man aber festhalten, womöglich hat bereits jemand dieses gelesen und kann dazu Stellung beziehen, interessant wäre es allemale.
Friedmann eiert leider in derselben beliebten, wenn auch unsinnigen Personal- und Allgemeinplatzschiene wie Sevindim - wenig bis gar nichts Konkretes, dafür viele Vorwürfe und Unsinnigkeiten. Beachtenswert ist, dass Sarrazin kurzum Friedmann als "nicht sehr intelligent" bezeichnet angesichts dessen Fehlinterpretation - und dafür rauschenden Applaus erhält.
Baring und Dressler ergreifen recht selten das Wort, kommen aber beide sehr vernünftig daher (abgesehen von dem obligaten, seiner Ansicht nach wohl auch obligeanten, cholerischen Ausfall Barings, als Plasberg den Focus-Bericht einstellt, der u.a. auch Baring an der Spitze einer neuen, rechten Partei neben der CDU sähe; einmal pro Sendung regt sich Baring ohnehin auf, manchmal auch häufiger). Höchst ehrenwert finde ich die Konzessionen der beiden Herren: Baring gibt offen zu, von dem "Biologismus", wie er es nennt, nicht viel zu verstehen und er deswegen dort lieber den Mund halte (wer gibt heute schon noch zu, in einem Punkt nicht allzusehr bewandert zu sein?), Dreßler benennt konzis Versäumnisse der Politik in den letzten Jahrzehnten und bringt auch einen Gegenvorschlag.
Alles in allem doch wenig ergiebig, aber das ist auch dem Format geschuldet (ich bin der Meinung, dass man in 75 Minuten mit 5 Gästen, dem Verkünden von den Zuschriften und unzähligen Einspielern mitsamt der notwendigen Moderation ohnehin keine echten Inhalte schaffen kann), schade auch, dass Sarrazin wiederum die Gelegenheit nicht beim Schopfe gegriffen hat, offensichtliche Falschheiten nicht richtigzustellen. Oder, wie Herr Dreßler es goldrichtig formuliert:
"[...]und da muss ich Ihnen sagen: wenn da einer nach der Melodie verfährt 'Ich würde ja meine Fehler zugeben, wenn ich welche hätte', nicht einmal im Stande ist [Fehler zuzugeben], außer, es war ein satirisches Kapitel - das letzte -, was den eigentlichen Punkt dargestellt hat in diesem Buch [...], dann ist es kontraproduktiv [...].".
@Hirnbrand:
Das halte ich ehrlich gesagt für eine üble Unterstellung. Ich traue gerade der "Zeit" und den vielen anderen seriösen Zeitungen in Deutschland zu, dass sie kritische Schreiber einstellen, die auch mal gegen die "Parteilinie" des Blattes schießen. Nur sollte es doch einem auch zu denken geben, wenn sogar eine ehern konservative Zeitung wie die "FAZ" (die der linken Hetze nun wirklich unverdächtig ist) in toto die die Genetik betreffenden Passagen (und auch nur diese!) in Sarrazins Buch anprangert. Ich muss zugestehen, aus dem Stegreif nicht genau zu wissen, was andere konservative Blätter im Einzelnen zu Sarrazin geschrieben haben (und derer gibt es ja nun einige: der "Focus", die "Welt", der "Rheinische Merkur", außerhalb Deutschlands auch die "Neue Zürcher Zeitung", um nur einige wenige zu nennen), aber ich traue ihnen allen zu, keine reine, wie Du es nennst, "Imagemaxime" zu betreiben. Soweit mir bekannt, kritisieren alle diese Opponenten Sarrazins nur und ausschließlich das unsägliche Biotop, in dem neben berechtigten Ausführungen zur verpassten und fehlgeleiteten Integrationspolitik auch die Sträucher der Genetik wachsen und nicht etwa die Integrationsansätze selbst. Da von einem großangelegten Hypokritentum in den Zeitungen zu reden, finde ich deplatziert.
@Bloodknight:
🙂. War auch nicht als persönlicher Angriff gemeint. Ich verfolge die Diskussion bloß gerade in diversen Foren und seit der Spiegel von "kruden Thesen" berichtet hat, taucht der Begriff dauernd auf (warum eigentlich? Das Wort scheint irgendwie über das Englische wieder in unseren Wortschatz einzufließen) und ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Leute, die diese Formulierung nutzen, keine Ahnung haben, was sie damit sagen 😉.
Das habe ich auch zu keinem Zeitpunkt angenommen (dass das als Angriff gedacht gewesen ist). ^_^
Die Kombination "krude Ideologie" ist ja eigentlich seit geraumer Zeit einigermaßen üblich, auch losgelöst von dem rezenten Aufreger Sarrazin, in dem konkreten Fall finde ich es auch recht zutreffend; es stimmt wohl, dass mit dieser Vokabel auch Schindluder getrieben wird, ich habe mehrfach die Phrase eines "kruden Missverständnisses" oder eines "kruden Fehlverhaltens" gelesen/gehört, was an der Bedeutung des Wortes in der Tat weit vorbeigeht.
Bei etwaigen Flüchtigkeitsfehlern und unzulässigen Verkürzungen bei der Kurzzusammenfassung der "hart aber fair"-Ausgabe bitte ich um Konzilianz, eigentlich hatte ich keinen längeren Beitrag beabsichtigt und nun ist es schon ziemlich spät/früh geworden. :gaehn: