Situation in Libyen

Moralisch müsste man das Sanktionieren, aber in Angesicht der Millionen Toten, die ein Angriff nach sich ziehen würde, spielt die machtpolitische Komponente eine wesentlich größere Rolle in der abwägung und es wird wohl auf wirtschaftliche Sanktionen hinauslaufen.
Aber GENAU das ist ja das Problem. Oben wurde das Beispiel mit dem verhauenem Nachbarskind genannt. Das mag im Falle von Libyen klappen - bei den Chinesen wird dann aber selbst gekniffen. Das ist doch Heuchelei vor dem Herrn, oder sehe ich das falsch? Da werden dann wieder faule Kompromisse geschlossen, halbherzige Sanktionen verlangt und hintenrum ein wenig gestänkert... Manche Nationen sitzen eben am längeren Hebel und daher ist der Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber meiner Meinung doch sowas von ins Leere gelaufen. Gegen einen oder ein paar "Große" die sich dann doch nicht so einfach verscheuchen lassen, hilft dann das Ganze auch nicht wirklich.
 
@Vovin:
Wenn das einfache Verwenden von Fakten für Dich schon Verbalerotik ist, dann muss Dir beim Lesen der wikipedia ja mächtig einer abgehen :cat:
Du bist wirklich der Auffassung, dass dem Begriff "Freiheitskämpfer" eine rein deskriptive Dimension zukommt, so ganz ohne Pathos und Wertung? Hat ja seinen Grund, warum die Hamas sich als "Freiheitskämpfer" zu inszenieren versucht und nicht als kaltblütige Terroristen. Sicher, wortwörtlich ist das ein relativ neutraler Begriff, ein Freiheitskämpfer ist jemand, der mithilfe einer bewaffneten Auseinandersetzung nach einer nicht näher beschriebenen Freiheit trachtet. Aber Dir als gebürtigem Hanseaten sollte ein derart mit Verklärungen in Verbindung gebrachtes Wort doch zuwiderstreben, es weckt von vornherein einen Ruch nach Parteilichkeit.
Alle Ereignisse in der Vergangenheit sind damit mehr oder wenig weit von dem Ablauf entfernt, der eigentlich prinzipeintreu wäre.
Dann lass' die Vergangenheit einmal ganz raus, es gibt genug präsente Probleme:
- In Ruanda schwärmen regelmäßig die Schläger von Kagame aus, um auch nur die leiseste Kritik im Keim zu ersticken. Dabei kommt es nicht eben selten auch zu ethnisch motivierten Gräueltaten. Ähnliches in Zimbabwe.
- In Uganda rufen staatshörige Zeitungen zum Mord an bekennenden Homosexuellen aus, die Anschriften der so Vogelfreien werden selbstverständlich mit abgedruckt, damit ein reibungsloser Ablauf gewährleistet wird.
- In Nordkorea gibt es überhaupt keine freie Presse, geschweige denn die Möglichkeit, übers Internet zu Protesten aufzurufen. Die Menschen hungern buchstäblich zu Tode, hier wird blumig eine "Harmonisierung" zur Staatsdoktrin erhoben, Demonstranten werden in aller Regel gar nicht erst ins Gefängnis geworfen, sondern werden totgeprügelt.
- In Weißrussland sind, wie Dir bewusst ist, die Wahlen massiv gefälscht worden und die friedlichen Demonstranten brutalstmöglich verletzt, eingesperrt, teils sogar getötet worden. Von manchen Oppositionsführern ist bis heute nicht ganz klar, wo die eigentlich stecken.
- In der Ukraine wird gerade stückweise die gesamte ehemalige Regierung Timoschenkos in menschenunwürdige Verfahren verwickelt, Oppositionelle sitzen teils jahrelang ohne jede Anklage in Gefängniszellen (auch schon vor Janukowitsch, ja, ändert aber nichts an der Tatsache).
- Das Mediengesetz in Ungarn und was daraus resultieren könnte, muss ich wohl auch nicht weiter ausführen.

Die Liste lässt sich beliebig weiterführen (Iran, Sudan, Kolumbien, teilweise auch Bolivien etc., von den Maghrebstaaten, die da noch ausstehen, ganz zu schweigen, Bahrein und Oman sind angesprochen worden), ich habe bewusst die schlimmsten Fälle nach oben gesetzt und mit verhältnismäßig harmlosen Fällen geschlossen, um das Spektrum einmal abzudecken. Alles Einzelfälle, die wir nicht durchgehen lassen dürf(t)en, wenn uns an einer universalen Demokratie etwas läge. Wir könnten dort überall instantan eingreifen und etwas zum Besseren wenden, alles verträglich mit den von Dir aufgeführten demokratischen Idealen. Tun wir aber nicht. Ruanda beispielsweise wird derart lückenlos geknechtet, dass ich da qualitativ eine Ähnlichkeit zu Libyen erkenne, Todesschwadronen sind in der Massierung auch nicht harmloser als Artillerie und Flieger. Dann musst Du auch keine intellektuellen Verrenkungen begehen und in die Vergangenheit schauen, die Gegenwart reicht völlig aus. Wo ist da unser Handlungsauftrag? Einmal ganz Afrika "säubern" und dann mit Asien weitermachen? Oder geht es hier nur darum, was vor unserer Haustür liegt? Aber warum dann so machtlose Sanktionen gegen Weißrussland?
Das nennt sich Prinzipientreue. Natürlich entspricht es unseren moralischen Leitlinien eher, Gruppen zu unterstützen, die auch unsere menschenrechtlichen Standards unterstützen als welche, die Ideale vertreten, die wir als unmoralisch ansehen.
Nun, ein wenig abstrahiert ist das aber ein paternalistischer Imperialismus, wenn man unter Beschuss stehende Demonstranten dann "Freiheitskämpfer" nennt, wenn diese eine Demokratie anstreben und keine Theokratie. Da kann ich die erhobene Kritik tatsächlich nachvollziehen.
 
Zuletzt bearbeitet:
moralischer Pragmatismus

Darauf in etwa läuft es wohl hinaus - ich möchte hinzu fügen, dass man sich meiner Meinung nach ohne einen solchen in der Politik nicht bewegen kann. Versucht man es ohne wird man entweder wahnsinnig oder komplett amoralisch.

Es ist toll, hohe Ziele und Ideale zu haben. Diese bedürfen meiner Meinung nach aber auch einer stetigen Machbarkeitskontrolle.
 
Es stellt sich einfach die Frage, warum interessiert sich die Weltgemeinschaft so stark für Libyen und nicht für die anderen Unrechtsherde der Welt (Sudan, Burma,...)? Diese Frage müssen alle Pro-Resolutions Verfechter erstmal beantworten bitte!

Gefunden auf Wikipedia:
Der ständige Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen, Peter Wittig, begründete die Enthaltung mit der „Gefahr, in einen ausgedehnten militärischen Konflikt hineingezogen zu werden". Es dürfe nicht unterschätzt werden, dass größere Verluste von Menschenleben bei der Umsetzung der Resolution sehr wahrscheinlich seien.
Das finde ich eigentlich sehr vernünftig, zumal gerade die Amerikaner ein bisschen den Eindruck machen, dass sie hier ihr zu langes Festhalten an Mubarak vergessen machen wollen.
 
Es stellt sich einfach die Frage, warum interessiert sich die Weltgemeinschaft so stark für Libyen und nicht für die anderen Unrechtsherde der Welt (Sudan, Burma,...)? Diese Frage müssen alle Pro-Resolutions Verfechter erstmal beantworten bitte!

Der Völkermord der im Sudan passiert ist einfach nur widerwärtig, gar keine Frage. Dagegen schaut das Geschehen in Libyen wirklich wie eine Balgerei kleiner Kinder aus.

Das Problem ist, dass über ein Einschreiten der Uno im Sudan bereits abgestimmt wurde und die Vetomacht China dagegen war. Kein Wunder, schließlich bauen die im Sudan Öl ab und haben ein Agreement mit den Machthabern. Meiner Meinung nach hätte man da trotzdem rein gehen müssen, weil das was im Sudan stattfindet einfach nur noch ein Genozid ist.

Aber die Tatsache, dass im Sudan nichts passiert kann für mich kein Grund sein, ein Einschreiten in Libyen nicht zu befürworten. Ich sage mir eben "Wenn sie schon im Sudan weg geschaut haben, dann sollen sie wenigstens in Libyen etwas tun."
 
Der Thread ist schon etwas weiter, aber ich will dennoch da ansetzen, wo ich aufgehört habe.

@ SlashytheOrc:
Falls beide Räume unendlich groß sind, ist deine Funktion zwar sinnvoll definierbar, aber nicht realistisch. Impliziert nämlich, daß es immer noch ein "schlimmeres" Verbrechen gibt, und dafür auch eine immer "härtere" Strafe.
100000 Morde sind schlimmer als 100001 als 1000002 Morde. 10 Peitschenhiebe sind schlimmer .... (wobei man bei der Strafe durch die endliche Belastbarkeit des menschlichen Körpers wirklich in Schwierigkeiten kommt. Aber dann ist höchste Strafe := 0 und alle Verbrechen ab einem gewissen Grad bilden darauf ab. Die Funktion ist dann zwar nicht mehr streng monoton steigend, aber ich hab ja nur normale Monotonie gefordert.)

Über den zweiten Absatz muss ich erst etwas nachdenken, bevor ich antworte.

@Freder:
Aber GENAU das ist ja das Problem. Oben wurde das Beispiel mit dem verhauenem Nachbarskind genannt. Das mag im Falle von Libyen klappen - bei den Chinesen wird dann aber selbst gekniffen. Das ist doch Heuchelei vor dem Herrn, oder sehe ich das falsch? Da werden dann wieder faule Kompromisse geschlossen, halbherzige Sanktionen verlangt und hintenrum ein wenig gestänkert... Manche Nationen sitzen eben am längeren Hebel und daher ist der Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber meiner Meinung doch sowas von ins Leere gelaufen. Gegen einen oder ein paar "Große" die sich dann doch nicht so einfach verscheuchen lassen, hilft dann das Ganze auch nicht wirklich.
Wenn mein Nachbar ein Profiboxer ist und vor meinen Augen ein Kind verprügelt, müsste ich nicht eingreifen, zumindest nicht so, dass ich meine eigene Gesundheit aufs Spiel setze. Von daher haben gut gebaute Länder leider mehr Narrenfreiheit als Hänflings-Nationen. Und wenn der Nachbar Chuck Norris ist und man die Polizei ruft (die UN) und diese dann auch nichts unternimmt, weil man gegen CN nichts unternehmen kann, dann ist das ethisch bedauerlich. Das ist ungerecht. Aber daraus kann man nicht schließen, dass dann auch kleinere Fische straffrei ausgehen müssen - vor allem, wenn diese kleinen Fische trotzdem noch hunderte oder tausende Menschen auf dem Gewissen haben. Um bei der Analogie zu bleiben. Nur weil ein Mörder nicht ermittelt werden kann und sich durch seine Verdunkelungs-Skills zu schützen weiß, muss man nicht jegliche Mordermittlungen einstellen, weil es ja ungerecht wäre, andere Mörder einzuspeeren, während der andere noch frei herumläuft.

@ KOG:
Du bist wirklich der Auffassung, dass dem Begriff "Freiheitskämpfer" eine rein deskriptive Dimension zukommt, so ganz ohne Pathos und Wertung?
Konnotationen gibt es immer. Ich habe aber in anderen Posts auch Rebellen als Beschreibung verwendet, was durchaus ambivalenter ist, wenn man nicht gerade Star Wars Fan ist.

Dann lass' die Vergangenheit einmal ganz raus, es gibt genug präsente Probleme:
Das ändert an der Argumentation nichts. Man ersetzt die zeitliche Komponente einfach mit einer zeitlichen.

- In Ruanda schwärmen regelmäßig die Schläger von Kagame aus, um auch nur die leiseste Kritik im Keim zu ersticken. Dabei kommt es nicht eben selten auch zu ethnisch motivierten Gräueltaten. Ähnliches in Zimbabwe.
Der Westen hat sich in Schwarzafrika schon zuvor eine blutige Nase geholt. Unsere Truppen sind einfach nicht für diese Bedingungen gemacht, da wir unsere technologische Überlegenheit nicht ausspielen können. Ein Eingreifen wäre natürlich trotzdem zu befürworten, aber die Verpflichtung zur Hilfeleistung hat eben dort die Grenze, wo der Selbstschutz nicht mehr ausreichend besteht. Ein Eingreifen der Nachbarn mit UN-Beschluss wäre ideal, aber dazu wird es nicht kommen.

- In Uganda rufen staatshörige Zeitungen zum Mord an bekennenden Homosexuellen aus, die Anschriften der so Vogelfreien werden selbstverständlich mit abgedruckt, damit ein reibungsloser Ablauf gewährleistet wird.
So bedauerlich das ist, ist das sicherlich kein Kriegsgrund. Man kann andere Sanktionen anlegen, aber diese greifen bei afrikanischen Ländern oft nicht. Die Un hat sich dem ja auch angenommen, wenn auch nicht so scharf, wie es sein könnte.

- In Nordkorea gibt es überhaupt keine freie Presse, geschweige denn die Möglichkeit, übers Internet zu Protesten aufzurufen. Die Menschen hungern buchstäblich zu Tode, hier wird blumig eine "Harmonisierung" zur Staatsdoktrin erhoben, Demonstranten werden in aller Regel gar nicht erst ins Gefängnis geworfen, sondern werden totgeprügelt.
Sollte man etwas tun, geht aber nicht, weil China von seinem Veto-Recht Gebrauch macht. Das kann man schwerlich dem Westen ankreiden.

Die restlichen Beispiele sind Peanuts.
Wir könnten dort überall instantan eingreifen und etwas zum Besseren wenden, alles verträglich mit den von Dir aufgeführten demokratischen Idealen.
Eben nicht. Erstens müssten wir dann gegen zwei Drittel der Weltbevölkerung Krieg führen. Wir könnten gar nicht alles ahnden. Und zweitens sind die Vergehen teilweise so gering, dass andere Sanktionen viel angemessener wären. Wegen mangelnder Pressefreiheit gibt es keinen Militärschlag, sondern getrübte diplomatische Beziehungen. In Weißrußland gibt es nicht-militärische Sanktionen, etc. Ich sage nicht, dass Europa immer richtig handelt, aber (und das wiederhole ich jetzt zum gefühlten hundersten mal) nur weil man in einigen Fällen zu lasch war, kann man daraus nicht ableioten, dass man jetzt auch lasch handeln muss. Genau das wäre die von mir angesprochene falsche Stringenz. "Sorry liebe Libyer, ihr müsst Euch wohl leider abschlachten lassen. Wir müssen Gerechtigkeit walten lassen. Immerhin durften die Hutus die Tutsis auch abschlachten. Da können wir Gaddafi sein Recht auf einen zünftigen Genozid nicht verwehren. Aber seit nicht traurig, die Kontinuität unserer Außenpolitik ist intakt."

Nun, ein wenig abstrahiert ist das aber ein paternalistischer Imperialismus, wenn man unter Beschuss stehende Demonstranten dann "Freiheitskämpfer" nennt, wenn diese eine Demokratie anstreben und keine Theokratie. Da kann ich die erhobene Kritik tatsächlich nachvollziehen.
Nein. Man muss auch das Leben von theokratischen Knallköpfen schützen. Wurde ja z.B. im Fall Irans letztendlich von Carter gemacht. Genauso müsste man sich von demokratischen Gruppen distanzieren, die die Menschenrechte durch Selbstmordattente auf Zivilisten durchsetzen wollen. Es ging mir nicht um die Vereitelung von Verbrechen gegen die Menschklichkeit, sondern um die allgemeine Unterstützung. Und dass wir auch eher sinistren Gruppierungen zu Hilfe kommen, sieht man am Kosovo sehr gut.
 
Zuletzt bearbeitet:
@Vovin:
100000 Morde sind schlimmer als 100001 als 100000 Morde.
Ich bin zumindest in dieser Sache nicht angesprochen, aber ist es eine vertrackte innermathematische Ironie, die hinter diesem Satz steckt? 100.000>100.001>100.000?!
Konnotationen gibt es immer.
Bei dem angebrachten Beispiel ist das aber sehr augenfällig. Hat schon seinen Grund, warum seriöse Zeitungen und Sachbücher weitgehend auf den Begriff "Freiheitskämpfer" verzichten, es sei denn in Parenthese gesetzt oder in politischer Absicht (die auch nicht immer verwerflich sein muss). Ich hänge mich auch nur deswegen an dieser Kleinigkeit auf, weil ich nach wie vor das Gefühl habe, dass Dir das Schicksal "der Libyer" (pars pro toto? Warum eigentlich?) weggehend von einer klinischen Betrachtung menschlich nahegeht, was Dich in Deiner Entscheidung beeinflusst, ob man diesen nun helfen müsste oder nicht.

Zu den von Dir formulierten Sanktionsmechanismen nehme ich dann auch eine Textpassage, die eigentlich Freder(TM) galt:
Und wenn der Nachbar Chuck Norris ist und man die Polizei ruft (die UN) und diese dann auch nichts unternimmt, weil man gegen CN nichts unternehmen kann, dann ist das ethisch bedauerlich.
Soll heißen, dass man den kleinen Drogendealer mit der ganzen Härte des Gesetzes straft, aber eine mächtige Mafia (i.e. deren Strippenzieher) innerhalb des Landes schalten und walten lässt, weil man ohnehin nicht gegen ankommt? Deine ganze Außenpolitik (und Innenpolitik?) fährt also auf einem approximal bemühten minimalinvasiven Handlungsutilitarismus, der dann und nur dann zum Handeln verpflichtet, wenn die Intervention mehr Schaden abwendet als schafft, mit besonderer Berücksichtigung der eigenen so eingesetzten Truppen. Das bricht sämtliche Lettern der Gesetzesmäßigkeiten schon deswegen, weil Dir eine formale (und damit die notwendige legalistische) Ebene fehlt, auf der Du überhaupt eine objektive Entscheidung fällen kannst. Schaden und Nutzen kannst Du vorher ohnehin nicht abwägen, ich bin mir sehr zuversichtlich, dass, wenn die damalige Bundesregierung Schröder gewusst hätte, welches Nutzenkalkül bei Afghanistan herauskommt, sich auch nicht dazu entschieden hätte.
Faust, mir graust's vor Dir. 😉 Wenn man die nationale Gesetzgebung dergestalt auslegen würde, hätten wir ja heitere Verhältnisse.
Systematische Unterdrückung und menschenunwürdige Gefängnisse sind "Peanuts", den Chinesen können wir den Freifahrtschein für despotischste Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung in die Hand drücken, ganz gleich, wie blutig diese ausfallen (bei Wirtschaftssanktionen greift Dein Utilitarismus nämlich auch wieder: das "nützt" dem Westen auch nichts, wird folglich ausgesetzt), kurzum, es wird nach Augenmaß entschieden, was hinreichend erträglich ist (nicht materiell gemeint) oder überhaupt geändert gehört.
 
Wenn man die nationale Gesetzgebung dergestalt auslegen würde, hätten wir ja heitere Verhältnisse.

Der Unterschied ist, dass die Außenpolitik noch nie den Anspruch erhoben hat, gerecht zu sein. Meiner Meinung nach hinkt der Vergleich sehr stark. Eine Konsitenz ist alleine schon dadurch nicht gegeben, dass die Parteien inklusive der Entscheidungsträger immer wieder wechseln. Davon unabhängig haben nationale Interessen in der Regel Vorrang. Werden diese eingeschränkt bzw. zu stark eingeschränkt wird auch nicht gehandelt. Aber, wenn du unbedingt bei diesem Beispiel bleiben möchtest, wäre die Argumentation, in Libyen nicht zu intervenieren weil man es anderswo auch nicht getan im übertragenen Sinne wie folgt: Würde ein Verbrecher aufgrund einer Gesetzeslücke ungeschoren davon kommen, dürfte man diese Gesetzeslücke nicht schließen um eine Konsistenz der Rechtsprechung zu gewährleisten. Das kann unmöglich im Sinne der Rechtsprechung sein.

Systematische Unterdrückung und menschenunwürdige Gefängnisse sind "Peanuts", den Chinesen können wir den Freifahrtschein für despotischste Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung in die Hand drücken, ganz gleich, wie blutig diese ausfallen (bei Wirtschaftssanktionen greift Dein Utilitarismus nämlich auch wieder: das "nützt" dem Westen auch nichts, wird folglich ausgesetzt), kurzum, es wird nach Augenmaß entschieden, was hinreichend erträglich ist (nicht materiell gemeint) oder überhaupt geändert gehört.

Jetzt mal Butter bei die Fische: Was soll man denn machen mit den Chinesen? Mit Wirtschaftssanktionen würden wir uns massiv ins eigene Fleisch schneiden. Würdest du einen sinkenden Wohlstand oder steigende Arbeitslosigkeit im eigenen Land aufgrund von Wirtschaftssanktionen gegenüber China rechtfertigen können oder wollen? Glaubst du, eine Partei bei uns könnte einen solchen Kurs mit breiter Zustimmung der Bevölkerung fahren?
Mit militärischer Intervention würde es noch viel krasser aussehen. Da würde nicht wie in Afghanistan ab und an mal jemand im Sarg nach Hause kommen sondern es wäre mit immensen Verlusten zu rechen. Auch hier stellt sich die Frage, wer diese rechtfertigen könnte oder wollte.
Das alles führt uns wieder zu moralischem Pragmatismus. Zugegeben, der ist nicht besonders schön, ist nichts worauf man übermäßig stolz sein könnte und besonders idealistisch ist so eine Haltung auch nicht. Aber ich sehe dazu keine rational vertretbare Alternative.
 
Es muss aber doch nen Mittelweg geben zwischen garnichts machen oder so Lulliesanktionen aussprechen die keinen stören und dem massiven Vernichtungskrieg.

Die Frage richtet sich jetzt an alle Flugverbotszonen-Gegner: Was ist denn dann eurer Meinung nach die richtige Reaktion auf Gadafis rumgemorde? (Diese Frage ist jetzt nicht mit zynischen Zügen gestellt, es ist mein voller Ernst.) Wie soll sich "der Westen", insbesondere unser Heimatland, denn jetzt verhalten?
 
Der Unterschied ist, dass die Außenpolitik noch nie den Anspruch erhoben hat, gerecht zu sein.
Wer spricht denn hier von "gerecht"? Das ist das idealiter erfolgende Substrat aus der Rechtssprechung, Gesetze folgen, daher ihr Name, einer Gesetzesmäßigkeit, sie sind nicht mal anzuwenden und mal auszusetzen, sind auch nicht volatil in ihren Strafmaßen (außerhalb der eigens so festgesetzten Grenzen).
Das Vertrauen und die basische Legitimation bezieht eine Gesetzesmäßigkeit daraus, dass tatsächlich ALLE Verstöße dagegen geahndet werden. Salienzen bei besonders schwerwiegenden Fällen kommen vor, ebenso muss man Resilienz walten lassen, menschliche Fehler lauern überall. Was aber unter gar keinen Umständen passieren darf, ist eine Handlungsdirektive, die sich Gesetzesmäßigkeiten selber strickt oder sich nur leichte Fälle aussucht. Deine Analogie schlägt deswegen fehl, weil Du von einer Gesetzeslücke sprichst, die es hier gar nicht gibt. Die Verstöße sind klar erkennbar, sind auch anderswo erkennbar, aber aus gutem Willen (?) ist man in dieser Sache entschlossen, einzugreifen, anderswo nicht.
Da finde ich eure Wortneuschöpfung des "moralischen Pragmatismus" auch sehr beschönigend, wenn ihr einen opportunistischen Handlungsutilitarismus zur Maxime nehmt, solltet ihr ihn auch so nennen. Mir ist es übrigens sogar grundlegend relativ egal, mit welcher Stoßrichtung die Gesetzeslage austariert wird, Hauptsache ist, dass diese auch zur Gesetzesmäßigkeit wird. Wenn ich nicht gewährleisten kann, die ganz groben Fälle zu verhindern, fange ich mit den kleinen Fischen nicht an, das lässt sämtliche Regularien des Gesetzes zerbersten. Meinethalben soll es unterschiedliche Pandekten für innere Angelegenheiten und zwischenstaatliche Konflikte geben, auch eine feststehende Formulierung, wann eine Sezession anerkannt wird und wann nicht, aber nicht diese Wurstigkeit. Stellt euch mal vor, die Feuerwehr oder Polizei dürfte in den dringlichsten Vierteln (wahlweise auch Fällen) eurer Stadt nicht mehr intervenieren, aber die Obstdiebe festnehmen. Wo ist denn da die Verlässlichkeit?
 
Ich bin zumindest in dieser Sache nicht angesprochen, aber ist es eine vertrackte innermathematische Ironie, die hinter diesem Satz steckt? 100.000>100.001>100.000?!
Mein edit war schneller als Dein Post 😉 War ein klassischer Guttenberg.

Ich hänge mich auch nur deswegen an dieser Kleinigkeit auf, weil ich nach wie vor das Gefühl habe, dass Dir das Schicksal "der Libyer" (pars pro toto? Warum eigentlich?) weggehend von einer klinischen Betrachtung menschlich nahegeht, was Dich in Deiner Entscheidung beeinflusst, ob man diesen nun helfen müsste oder nicht.
Nicht mehr als die Opfer anderer Verfolgungen, sei es Birma, Sudan, Elfenbeinküste, selbst einige Insassen von Guantanamo.
Allerdings war im Anfangspost in der Tat eine gewisse Ladung Emotion dabei, da ich es für unfassbar hielt, wie wir unseren Verbündeten in den Rücken fallen können um mit Russland und China zu kuscheln. Da ich meine Position dazu aber schon davor gebildet hatte, sollten die Argumente auch stichhaltig sein, wenn die Wortwahl etwas emotionalisiert war (was in einem Eingangspost ja in Maßen auch sinnvoll ist).

Mir liegt viel daran, dass die demokratische Revolution gelingt. Zum einen weil sich dann ein von mir sehr geschätzter Kulturkreis endlich den dem Sog der Stagnation entziehen kann. Und weil dann die ganzen deutschen islamophobischen Idioten endlich nicht mehr behaupten können, Demokratie wäre in islamischen Ländern nicht möglich (was durch Indonesien eh widerlegt ist und sie im übrigen natürlich trotzdem nicht von ihren Binsenweisheiten abbringt).

Soll heißen, dass man den kleinen Drogendealer mit der ganzen Härte des Gesetzes straft, aber eine mächtige Mafia (i.e. deren Strippenzieher) innerhalb des Landes schalten und walten lässt, weil man ohnehin nicht gegen ankommt?
Ja, wenn es utilitaristisch sinnvoll ist, auf eine Sanktion zu verzichten und es gleichzeitig moralisch von einem nicht erwartet werden kann, weil die Intention nicht die Gefahr für einen selbst überwiegt.
Und ich behaupte immer noch den moralischen Higher Ground. Im Vergleich zu Deinem Modell wird immerhin der Drogendealer abgeräumt, während bei Dir Straffreiheit gibt, weil den dicken Fischen ohne dritten Weltkrieg nicht beizukommen ist.
 
Stellt euch mal vor, die Feuerwehr oder Polizei dürfte in den dringlichsten Vierteln (wahlweise auch Fällen) eurer Stadt nicht mehr intervenieren, aber die Obstdiebe festnehmen. Wo ist denn da die Verlässlichkeit?

So weit her geholt ist der Vergleich mit bestimmten Stadtviertel oder auch der Mafia nicht. In manchen Städten gibt es ja tatsächlich Viertel, um welche die Polizei lieber einen Bogen macht und die Mafia hat sich über die Jahrhunderte auch ganz gut gehalten, ohne dass man es geschafft hätte ihr den Garaus zu machen.

Die Frage ist doch trotzdem, ob man deswegen keine Obstdiebe festnehmen darf. Die Schlussfolgerung wäre, dass sobald sich eine kriminelle Organisation als so mächtig erweist, dass wir sie nicht wirkungsvoll bekämpfen können, wir lieber gleich unser ganzes Rechtssystem über Bord werfen und in Anarchie verfallen.

Hier stellt sich mir die Frage, worin du in so einem Verhalten einen konkreten Nutzen oder eine moralische Rechtfertigung siehst.
 
Die Schlussfolgerung wäre, dass sobald sich eine kriminelle Organisation als so mächtig erweist, dass wir sie nicht wirkungsvoll bekämpfen können, wir lieber gleich unser ganzes Rechtssystem über Bord werfen und in Anarchie verfallen.
Entweder das, oder man versucht nach bestem Wissen und Gewissen, es auch mit Problemvierteln oder organisierter Kriminalität aufzunehmen, auch wenn das Polizistenleben kosten wird. Ich bin da für Zweiteres. Dass sich der Rechtsstaat (ob nun innen- oder außenpolitisch) eine Leerstelle der Gesetzgebung und -sprechung auferlegt, ist nur dann akzeptabel, wenn er es zur Gänze tut. Entweder hat man den Mumm, das Licht des Gesetzes auch in die finstersten Winkel zu tragen, oder man lässt die Fackel im Brackwasser erlischen. Aus praktischer Vernunft und im "realen Leben" liegen Vovin und Du nach Punkten klar vorne, spreche ich euch auch nicht ab, aber die Statuten der reinen Vernunft könnt ihr so nicht in Anspruch nehmen.