SIEBEN / III
Die Reise zur Raumfestung Argenteus Irae wurde bereits ab dem zweiten Tag alles andere als komplikationslos. Ständig zog kalter Nebel durch die stählernen Gänge und Schächte der Fregatte. Dies resultierte in Kondenswasser, welches Leitungen und Wände herabtröpfelte und zahlreiche Kurzschlüsse verursachte. Servitoren versagten ihren Dienst oder begannen unsinnige Operationen abzuspielen, die nicht selten sie selbst und die Sterblichen um sie herum in Gefahr brachten. Dabei wurden die Sterblichen, nach menschlichen Standards erfahrene und gut gedrillte Flottenknechte, massenhaft von Alpträumen und Paranoia heimgesucht. Einige wurden von den jeweiligen Sektionswärtern hingerichtet, wenn ihr entflammter Wahnsinn irreversibel zu sein schien und sie nicht länger zu kontrollieren waren. Die Spacemarines nahmen dies zwar durchaus zur Kenntnis, aber auch wenn einige wenige die Ereignisse als schlechtes Omen sahen, ertrugen die meisten es als rein kosmetische Unannehmlichkeit.
Die Sterblichen auf Argenteus Irae hatten unterdessen sehr viel mehr als Unannehmlichkeiten zu erdulden. Es waren noch bei weitem nicht alle Schäden behoben, die die Alphalegion angerichtet hatte, was bedeutete, dass die Überlebenden genug Arbeit für ein ganzes Leben vor sich hatten. Nur, dass weder Watchcaptain Adalwin, noch der oberste Magos gewillt waren, so lange zu warten. Sie hatten diverse Anforderungen versandt um das Menschenmaterial zu ersetzen, welches gnadenlos geschunden wurde. Damit nicht genug, hatte Adalwin einen Inquisitor beauftragt interne Ermittlungen anzustellen, um das oder die Sicherheitslecks aufzuspüren, die überhaupt erst den folgenschweren Angriff ermöglich hatten.
Der Inquisitor war extra aus dem fernen Segmentum Tempestus angereist und mit Vollmachten ausgestattet worden, die ihm selbst gegenüber ansässigen Lordinquisitoren Autorität verliehen. Optisch schien er nicht viel älter als dreißig Standardjahre zu sein und wies auch keine der verräterischen Merkmale für Verjüngungsbehandlungen auf. Hochgewachsen und hager wirkte er ein wenig wie eine Heuschrecke die nach Beute suchte. Seine dichten mittellangen blonden Haare standen in einem ungezähmten Bürstenschnitt nach oben und wirkten ebenso vital wie seine stechend grünen Augen. Er trug ein breites Dauergrinsen zur Schau, welches strahlend weiße Zähne entblößte und ein Spektrum von hämisch, über freundlich, bis hin zu beschränkt zu präsentieren vermochte. Aber gegrinst wurde scheinbar immer, selbst wenn er wütend war. Sein Gesicht war vollkommen narbenlos, aber wer dadurch auf mangelnde kämpferische Fähigkeiten schloss wurde von seiner für Kämpfer unverwechselbaren Art sich zu bewegen eines Besseren belehrt.
Auch wenn er mit einem umfangreichen Stab angereist war, zeigte er sich praktisch ausschließlich allein. Sein bizarrer Anblick hatte schon so manchen Knecht erschrocken. Wenn er in seinem schmucklosen schwarzen Mantel und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen aus einem unbeleuchteten Korridor schlich erschien er, nicht zuletzt auch wegen seines Grinsens, wie eine dunkle Heimsuchung. Neben einer abgenutzten Inquisitionsrosette trug er auch ein goldenes Dreieck, welches ein stilisiertes Auge umschloss, an einer Metallkette um den Hals. Für die die ihn kannten, wirkte das Klimpern der beiden Schmuckstücke aufeinander bedrohlich wie eine Totenglocke.
Scarissa Johmark war eben damit beschäftigt, ihr Versprechen einzulösen und für ihre Freundin Jeri Informationen bezüglich Vorys Verschwinden zu sammeln. Die Tatsache, dass sie, anders als alle anderen, in keinem Schichtplan auftauchte war hierfür notwendig und längst kein Zufall mehr. Mit viel Verhandlungsgeschick und nur minimalen Identitätsdiebstählen hatte sie sich forensische Untersuchungsutensilien besorgt und immer wieder ihre Einsatzplanung verhindert. Darüber hinaus hatte sie diversen Besprechungen beigewohnt. Im Zuge dieser für sie eigentlich unzugänglichen Arbeitsplanungen bekam sie heraus, wer die Arbeit des verschwundenen Vorys vollenden sollte. Damit kam sie einem möglichen Tatort zumindest räumlich ein wenig näher.
Nun besprühte sie seit Stunden den verkratzen Boden mit einer Lösung die eine neongelbe Farbe annehmen sollte, wenn sie auch nur mit minimalen Rückständen von Blut zusammentraf. Zwei Kanister waren bereits leer und in Gedanken war sie schon bei dem Nerv tötenden Adepten, der derartige Bestände verwaltete.
Als der Rand ihres letzten Sprühflecks schließlich seine Farbe änderte, traute sie zuerst ihren Augen nicht. Sie sprühte weiter und fand die Rückstände einer großen Blutlache. Dann erhob sie sich aus ihrer knienden Position. Für einen Moment wurde ihr etwas schwindelig und sie vernahm ein Klingeln in den Ohren, welches sofort wieder verstummte. Die beinahe leere Sprühflasche befestigte sie an ihrem Gürtel und kramte in ihrer Brusttasche. Dabei stieg ihr der süße Geruch ihrer chemikalienverschmierten Hand in die von Metall verdeckten Überreste ihrer Nase. Sie förderte einige eingeschweißte Wattestäbchen zutage und riss deren Verpackung auf, sorgsam darauf achtend keinen Müll zu hinterlassen. Leider stand ihr kein professionelles Labor zur Verfügung, weshalb ein DNA-Test ausschied, jedoch konnte sie wenigstens die Blutgruppe bestimmen. Eine Übereinstimmung wäre zwar kein Beweis, aber immerhin ein sehr starkes Indiz.
Von sich selbst angewidert wischte sie sich mit einem siffigen Lappen in der Linken über ihre Gesichtsaugmentik und entfernte so das ranzige Sekret welches ihr ansonsten dauernd auf die Kleidung tropfen würde. Wieder auf den Knien strich sie mit den Stäbchen über den Boden und steckte sie zurück in ihre Verpackung, auf die praktischerweise eine Farbskale gedruckt war. Während sie wartete bis das Ergebnis lesbar wurde, sah sie sich um. In einem schattigen Alkoven ragten angelaufene Manschetten hervor die normalerweise einen Raumanzug hielten. Mehr aus Langweile steckte sie ihren Kopf hinein und roch altes Schmiermittel. An der linken Seite war ein verknittertes Plastekblatt angeheftet, auf dem wohl vor Jahren zuletzt eingetragen worden war wer den Anzug genommen hatte. Bis auf den letzten Eintrag. Der war nicht nur neuer, sondern auch mit einer Sorgfalt angebracht worden die dafür sprach, dass sein Schreiber mehr als nur seinen Namen beherrschte. >Vorys Malak, Sek. Ordensdiener<
Sie riss das Plastek heraus um es im Licht der chemischen Lampen etwas besser erkenne zu können. Ein ungesunder Laut drang aus ihrer Maske als sie die Fratze erblickte die zweifellos ein halbwüchsiger Idiot mit viel Geschick an die Wand geschmiert hatte. Als die Fratze den Mund öffnete um etwas zu sagen, gefror ihr das Blut in den Adern und ein noch unwürdigerer Laut drang aus ihrem Gesicht als sie Speichel verschluckte.
„Adeptus Arbites. Undercover oder desertiert…“ formulierte die Fratze mit angenehmer Stimme, scheinbar mit sich selbst redend. Scarissas Erleichterung, es mit einem Wesen aus Fleisch und Blut zu tun zu haben, währte nur Sekundenbruchteile. Dann erkannte sie die Insignien und erinnerte sich an die Gerüchte, die zuletzt die Runde machten. Irgendwie gelang es ihr, den Klumpen in ihrem Hals unscheinbar herunterzuwürgen und sie nahm Haltung an. Der Verlust ihres blendenden Aussehens hatte sie schwer getroffen, jedoch war sie sich sicher, dass es ihr bei dem Inquisitor auch nicht besonders geholfen hätte.
„Arbitesagentin Scarissa Johmark,…freischaffend.“
Das Grinsen des Inquisitors wurde breiter aber nicht leichter zu deuten. „Erläutern sie dies.“ hakte er nach, ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern. Unglaublich wie grün seine Augen waren. Scarissa fasste Mut, ihre Tätigkeit war der des Inquisitors ja gar nicht so unähnlich.
„Ich ermittle in der Angelegenheit eines verschwundenen Ordensdieners…und jüngsten Erkenntnissen nach ist er wohl ungefähr hier gestorben.“ berichtete sie diszipliniert und wies auf die noch schwach leuchtenden Chemikalienspritzer.
„Und wie es aussieht sind sie gut darin. Aber da es weder einen offiziellen Auftrag gibt, noch eine aktive Arbitesagentin auf Argenteus Irae verzeichnet ist, bin ich gespannt auf den Hintergrund.“ Dabei nahm er seine Hände vom Rücken und faltete sie verschwörerisch vor der Brust. Scarissa sah, dass sie sauber manikürt waren und glaubte einen Hauch von Freundlichkeit in seinen Augen zu lesen. „Aufträge sind nicht das Einzige was es hier nicht gibt. Es fehlen unzählige Arbeitskräfte und Disponenten, aber ich kann dennoch tun wozu ich ausgebildet wurde und ich habe mich nun mal Entschieden, dieser Sache nachzugehen. Ich überwinde Hindernisse lieber anstatt vor ihnen zu kapitulieren.“ rechtfertigte sie sich mit etwas mehr Selbstbewusstsein, als man einem Inquisitor entgegenbringen sollte. Wie konnte sie nur so leichtfertig sein.
„Wir kennen uns noch keine drei Minuten und schon belügt ihr mich?“ fragte er und wirkte irritierender Weise aufrichtig verletzt und nicht erbost. Sein Grinsen wurde schmaler und seine Brauen hoben sich, was ihm insgesamt einen eher wahnsinnigen Ausdruck verlieh. Er machte eine verspielte Geste mit der Hand und fuhr fort. „Ich erlöse sie hiermit von der Loyalität ihren Mitmenschen gegenüber.“
War er vielleicht wirklich wahnsinnig?
„Der Ordensdiener war der Partner einer hochrangigen Techdadeptin, der ich etwas schulde.“ Scarissa hoffte, dass das Erwähnen vermeintlich wichtiger Personen ihren Auftrag irgendwie sanktifizieren konnte.
„Faszinierend, eine durchweg unwahrscheinliche und unglaubwürdige Geschichte, aber dennoch ist sie wahr.“ antwortete er zufrieden und während seine Hände zurück auf den Rücken wanderten, kehrte auch sein voriges Grinsen wieder zurück.
„Und nun? Werdet ihr mir helfen oder mich aufhalten?“ fragte sie erneut forscher nach als sie für vernünftig hielt, woraufhin das Grinsen aus dem Gesicht des Inquisitors verschwand. Obwohl sein Ausdruck deutlich ernster wurde, zeigte er ihr nun anscheinend zum ersten Mal echtes Amüsement. „Ich werde ihnen zunächst über die Schulter sehen. Haben sie eine DNA-Probe oder dergleichen bei sich?“
„Ja Inquisitor.“ antwortete sie und wurde sich bewusst, dass sie zum ersten Mal seinen Rang benutzt hatte. Diensteifrig zog sie ein kleines Plastektütchen hervor und hielt es ihm hin. Zügig öffnete er es und griff mit seinen langen Fingern hinein. „Nicht! Sie kontaminieren…“ fuhr sie auf und bremste sich von sich selbst erschrocken, ehe sie weitersprach. Erneut nahm sein Gesicht jenen ernsten amüsierten Ausdruck an und hielt das Haar aus dem Tütchen, ins diffuse Licht der chemischen Lampen. Was er damit bezweckte war nicht zu erkennen. Er steckte es zurück und gab ihr schweigend ihre Probe wieder. „Fahrt fort als ob ich nicht hier wäre.“
Er machte einen Schritt zurück und beugte sich dann interessiert etwas nach vorne.
Scarissa versuchte ihre Gedanken zu sammeln und weiterzumachen wie befohlen. Entschlossen trat sie vor die nahe Schleuse, kramte einen Datenstick aus einer Beintasche und verharrte, als ihr einfiel, dass sie dies auch noosphärisch tun konnte. Mit mehr Souveränität als sie empfand untersuchte sie die Kontrollmechanismen und öffnete schließlich die Innentür. In der Kammer waren die Wände heftig verkratzt und stark korrodiert. Schließlich sammelte sich in derartigen Schleusen gerne Kondenswasser und da sie nur selten geöffnet wurden, blieb es zumeist für Dekaden dort. Sie zückte ihre Sprühflasche und fand auch hier schnell Rückstände von Blut, allerdings nur tröpfchenweise. Dafür entdeckte sie Kratzspuren, die zu den für Raumanzüge typischen Magnetstiefeln passten. Scarissa warf einen verstohlenen Blick hinter sich und sah gerade noch wie sich der Inquisitor sich aus der Hocke erhob. An seiner Hand klebte etwas von dem Gemisch aus Blut und Chemikalien.
Aus den vorliegenden Fakten schloss sie, dass Vorys vor der Schleuse verletzt worden war und angesichts der Blutmenge kaum in der Lage gewesen sein sollte die Stelle aus eigener Kraft zu verlassen. Es gab ja keine Spuren die belegten, dass ein Verletzter innerhalb der Station abtransportiert worden wäre. Da auch der Raumanzug fehlte, war er wohl mit diesem zusammen aus der Luftschleuse befördert worden, was eindeutig eine Verschleierungsabsicht belegte. Servitoren beförderten aus Eigenantrieb keine Abfälle aus Luftschleusen die nicht hierfür gedacht waren. „Mord.“ verkündete sie theatralisch und lauerte auf eine Reaktion des Inquisitors. Der ließ jedoch nichts erkennen. Das frustrierende an diesem Durchbruch war allerdings, dass sie keinerlei Hinweise auf einen Täter hatte.
Unterdessen gewann Jeri Rahin ihren vorgesetzten Magos regelrecht lieb. Die Anfragen die aus dem Stab des Inquisitors auf sie einprasselten, waren noch viel ermüdender und pingeliger als alles was besagter Magos ihr je abverlangt hatte. Selbst der schien alles andere erfreut, über den in seinen Augen offenen Misstrauensbeweis seitens der Obrigkeit. Eine Weile lang hatte sie ihm noch nachgetragen, dass er mit seiner Behauptung, wenn sie sich einmal an die noosphärische Kommunikation gewöhnt habe sie diese vorziehen würde, recht behalten hatte. Auf herkömmliche Art und Weise hätte sie auch keine Chance gehabt der Anfragen auch nur im Ansatz Herr zu werden.
Insbesondere die von ihr ursprünglich enttarnte Feindtransmission, war Inhalt von duzenden Untersuchungen und wurde, wie es schien, durch voneinander unabhängigen Kontrollgruppen geprüft. In ihren kurzen Pausen, dachte sie an Vorys und versank immer wieder in tiefer Trauer, da sie bemerkte, dass ihre Erinnerungen an ihn immer lückenhafter wurden. Den einzigen Trost spendete ihr Scarissa. Sie ging als einzige der Angelegenheit nach und ließ Vorys‘ Schicksal so keinen gesichtslosen Verlust an Menschenmaterial bleiben. Aber wie lange konnte ihre Freundin diese Aufgabe wohl noch ausführen? Sie würde sich nicht ewig aus Schichtplänen und den Erfassungswellen heraushalten können und zu allem Überfluss schnüffelte die Inquisition in ungekanntem Ausmaß auf Argenteus Irae herum.
Als sie einander in der Sektionskantine trafen, um die Ergebnisse der Ermittlungen auszutauschen, bemerkte Jeri sofort die Veränderung an ihrer Freundin. Scarissa wirkte ein wenig gehetzt und sah sich ständig um. Abgesehen davon aß sie mit auffallend wenig Appetit von der zähen Pampe, zu der geheimnisvolle Frikadellen gereicht wurden. Zum Glück gehörte auch eine sehr würzige Sauce dazu, die das ganze Mahl überhaupt erst genießbar machte. Wenn man bedachte, dass es sich hier um eine im Vergleich hochwertige Kost handelte trotzdem nur ein schwacher Trost.
Scarissa hatte auf dem Weg hierher immer wieder über ihre Schulter geblickt, um zu sehen ob der geheimnisvolle Inquisitor sie weiterhin verfolgte. Dabei zermarterte sie sich das Hirn was sie Jeri sagen sollte. Auch wenn sie ein wenig Licht ins Dunkel gebrachte hatte war das entstandene Bild alles andere als tröstlich oder ermutigend.
„Ich habe eine Spur gefunden. Ich kenne jetzt Vorys letzten Arbeitsplatz und…“ Scarissa stockte. Jeri hielt dies für eine Nebenwirkung der kruden Augmentik und steckte sich eine der Frikadellen in den Mund. Kauend und über deren Inhalt rätselnd blickte sie auf. „Was ist los Scarissa?“ fragte sie und spürte wie sich ihre Eingeweide verkrampften als sie ihrer Freundin in die Augen blickte.
„Vorys wurde ermordet.“ platzte sie schließlich heraus und schob ihr Tablett in einer hilflosen Geste von sich. Jeri versuchte die Frikadelle zu schlucken, während ihr Mageninhalt sich auf Abfangkurs begab. Als die Frikadelle schließlich knapp gewann, stiegen ihr Tränen in die Augen. Die Übelkeit war lähmend und sie versuchte sich einzureden, dass sie doch insgeheim gewusst haben musste, dass so etwas passieren würde. Scarissas Augen zeigten Bedauern und Mitgefühl, welches von ihrer unteren Gesichtshälfte jedoch nicht wiedergegeben wurde. „Und von wem?“ speiste Jeri noosphärisch aus, als es ihr die Sprache verschlug.
„Darauf habe ich noch keine Antwort. Aber ich kann dir sagen, dass der Angelegenheit mittlerweile mehr Beachtung geschenkt wird als bisher.“ entgegnete sie auf dieselbe effiziente Weise.
„Was bedeutet das? Hat die Stationssicherheit eine offizielle Untersuchung angesetzt?“ fragte sie voll aufkeimender Hoffnung auf Gerechtigkeit.
„Sozusagen.“ antwortete Scarissa knapp und presste die Lippen zusammen. Auch wenn der Inquisitor ihr keine Schweigepflicht auferlegt hatte, so schien es wenig ratsam seine Einmischung leichtfertig mitzuteilen. Außerdem fühlte es sich irgendwie wie Verrat an. Was war nur los mit ihr?
„Sozusagen? Ja oder Nein?“ bohrte Jeri etwas erbost nach. War Scarissa etwa in eines der unzähligen Netze aus Lügen, Vertuschung und Geheimhaltung geraten? „Das was ich gesagt habe.“ fuhr Scarissa Jeri ein wenig heftiger an, als nötig. War das der Dank für ihre Mühen und ihren mysteriösen Inquisitionskontakt. Es war doch nur ein relativ kurzes Gespräch gewesen. Warum war sie seitdem so unausgeglichen und unbeherrscht? Jeri sah ein wenig betroffen auf ihr lauwarmes Gericht herab und flüsterte eine Entschuldigung.
„Du kannst dich auf mich verlassen.“ antwortete Scarissa so gefühlvoll wie es ihr mechanischer Kehlkopf erlaubte und strich Jeri sanft über die Schulter, als sie langsam aufstand um zu gehen.
Scarissa marschierte zielstrebig zu ihrem Quartier und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie streifte sich ihre schweren Stiefel von den Füßen und wandte sich dem neben dem Bett angebrachten Cogitator zu. Auf der Tastatur lag ein Zettel. Zuerst hielt sie ihn für die übliche Plastekfolie in vergilbtem Zustand. Als sie ihn in die Hand nahm stellte sie nicht nur fest, dass er aus echtem Papier war, sondern darüber hinaus mit ihren Initialen beschriftet. Jemand war in ihr Quartier eingedrungen! In geschwungenen Buchstaben stand dort SJ, geschrieben mit blauer Tinte. Sie klappte die Nachricht auf und als erstes fiel ihr das schwere Wachssigel im Inneren auf. Das Zeichen war ihr gut bekannt, nur hatte sie es schon eine Weile nicht mehr gesehen. Es zeigte eine stilisierte Faust, die eine altmodische Waage hielt, das unverwechselbare Zeichen des Adeptus Arbites. Die in den Rand geprägten Ziffern waren die eines Arbites Beamten im Range eines Magistraten. Dezent genug nicht für Aufsehen zu sorgen, hochrangig genug ihr eine Menge Ärger vom Hals zu halten. Auch wenn auf Argenteus Irae das Arbites keine Befugnisse hatte, würde sie mit diesem Schrieb zumindest um eine standrechtliche Erschießung herumkommen. Ihre Chancen standen aber auch für die mit dem Schrieb erwirkbare Verhandlung nicht besonders gut. Sofern sie dabei keine Hilfe von außen erhielt. Aber was bedeutete das Dokument und die Art seines Erscheinens für sie? Sie war sich ziemlich sicher, dass der Inquisitor dahintersteckte und fragte sich welches Interesse er wohl an dem Ermordeten hatte. Oder gar an ihr? Sie hatte schon das Gefühl, einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben und bereits mit einem Blick hinter seine grinsende Maske belohnt worden zu sein.
Inquisitor Alexander Kane betrat sein Quartier, entspannte seine Gesichtszüge und massierte in allzu menschlicher Art und Weise seine Schläfen und die hintere Kiefermuskulatur. Natürlich war auch er ein Mensch. Allerdings einer der höher entwickelten, wie er sich gerne ausdrückte.
Er war einer unter Milliarden und selbst unter diesen noch ein Exot. Sein Geist war mit dem Warp verbunden, was für sich genommen bereits selten genug vorkam. Damals, vor mehreren hundert Jahren, war er noch auf dem schwarzen Schiff, welches ihn nach Terra schaffen sollte, als etwas Besonderes erkannt worden. Mit vierzehn Jahren besaß er zwar noch die Körpergröße eines Kindes, jedoch ansonsten alle Attribute eines erwachsenen Mannes. Was sich zunächst wie eine obszöne Laune der Natur darstellte, entpuppte sich als ein intuitives Verständnis physiologischer Prozesse, welches seine Energie direkt aus dem Warp bezog. Er hatte andere Psioniker Blitze schleudern sehen, unglaubliche Vorhersagen machen hören oder auch das Bewusstsein von anderen Lebewesen okkupieren sehen. Sein eigenes Talent hatte er einmal als passive psychophysiologische Transformation beschrieben. Als er seinerzeit die Lettern in sein Tagebuch geschrieben hatte, war er sich dabei noch klug und aufgeklärt vorgekommen.
Jugendsünden eben, sowohl zu glauben Psionik trennscharf klassifizieren zu können, als auch ein Tagebuch zu führen. Heute, nachdem er mehr Bücher gelesen hatte als in sein Quartier passten und mit mehr Psionikern gesprochen hatte, als die meisten Zeit ihres Lebens zu Gesicht bekamen, war seine Klassifizierung sehr viel kürzer und zugleich umfassender. Er war ein Biomancer. Sein Körper gehorchte mit jeder Zelle seinem Willen und er war auch in der Lage jeden anderen zu beeinflussen. Insbesondere die letztgenannte Facette war bei seiner Arbeit besonders nützlich. Er konnte die Körperchemie so spezifisch beeinflussen, dass er sein Gegenüber in praktisch jede Stimmung versetzen konnte, bis hin zu dem warmen Gefühl der Liebe. Telepathen, die den Geist beeinflussten hinterließen dabei meist Spuren, winzige mentale Traumata die ein fähiger Ermittler zu entdecken vermochte. Seine Spuren unterschieden sich jedoch in keiner Weise von jenen, die ohnehin in jedem Menschen steckten. Und den meisten Xenos.
Als er diese Fähigkeiten erlernte und meisterte hatte er schwer zu ringen gehabt, Emotionen ob ihrer vermeintlichen Trivialität überhaupt noch einen besonderen Wert zuzuschreiben. Zu Beginn hatte er noch Wert darauf gelegt, dass ein Stab ihm aus eigenem Entschluss loyal diente. Im Laufe der Jahrzehnte, während Agent um Agent gestorben waren und er begann sich menschliche Bindungen zu verbieten, erzeugte er die glühende Loyalität seiner Untergebenen kurzerhand selbst.
Er goss sich einen Kelch Wein ein, den er sich aus der Trinkhalle der Astartes hatte bringen lassen und genoss dessen beißendes Aroma. Er trat aus dem dekadenten kleinen Salon in den hinter einem schweren Vorhang verborgenen Arbeitsbereich. Dort stand Illisar, sein treuer Adept und ältester Gehilfe. Für seine hundertachtzig Standardjahre war auch dieser ein Phanal der Vitalität. Sie beide wussten, dass Kane ihn zumindest vor einem Tot an Altersschwäche bewahren konnte. Illisar hatte in seiner Funktion das Privileg vom Sanktum des Inquisitors aus zu operieren und darüber hinaus auch das Glück allen bisherigen Attentaten entgangen zu sein. Ein Inquisitor machte sich nun mal per Definition eine Menge Feinde. In und außerhalb der eigenen Reihen.
„Wo warst du so lange Alexander? Wir haben einen strengen Zeitplan der unsere einzige Chance ist unseren Auftrag logistisch zu bewältigen.“ tadelte der Adept seinen Vorgesetzten und ließ ihn die Nase rümpfen. „Ich habe eine unvorhergesehene Spur entdeckt und möglicherweise auch eine Person, die den entstandenen Verzug ausgleichen kann.“ rechtfertigte sich der Inquisitor und verschränkte die Arme vor der Brust. Gelegentlich genoss er es, einfach mal den Unterlegenen zu spielen. In der Realität kam dies kaum vor. Nicht einmal auf einer Watchfeste der Astartes.
„Also jemand der endlich meinen Platz einnimmt?“ fragte Illisar nach.
Auch wenn Ton und Ausdruck locker und gut gelaunt wirkten, so lag doch ein Schleier der Qual in seinen Augen, den Alexander nicht leugnen konnte. Trübsinnig setzte er sein falsches Grinsen auf und bemerkte die vollen und leeren Medikamenten Kartuschen, die in dem Regal neben dem Arbeitsplatz lagen. Die Frage seines Untergebenen war, auch wenn im Scherz formuliert, durchaus berechtigt und ein Indiz für dessen desolaten Zustand. Die Manipulation von Körper und Geist, in Kombination mit der überlangen Lebensdauer, forderten einen heimtückischen Tribut. Der menschliche Geist, der nicht für die Ewigkeit gemacht war, konnte die unablässige Vergewaltigung seines Selbst nicht unbegrenzt verkraften. Heftige, unkontrollierte Depressionsschübe waren die Folge.
Durch die fortwährende Manipulation wurden seine Untergebenen regelrecht süchtig nach ihm und wiesen am Ende ähnliche Symptome auf wie ein Obscuraabhängiger. Das ausgerechnet diejenigen, die gewissermaßen die Last der ganzen Menschheit trugen obendrein so verschlissen wurden, hatte Alexander schon vor Jahren das Herz gebrochen. Mit Leichtigkeit hätte er den inneren Schmerz ausschalten können, sah jedoch davon ab. Erbärmlicher Weise, war dieser Schmerz das menschlichste an ihm.
„Möglicherweise.“ antwortete Alexander und hasste die Lüge in dem Moment in dem er sie aussprach. War es falsch Hoffnung zu schenken wo es keine gab? Nur im Tot endete die Pflicht und auch Illium würde sich dem ebenso wenig wie Alexander selbst verwehren können. Zumindest hoffte der Inquisitor auch eines Tages zu sterben und fragte sich im selben Moment ob er sich selbst etwas vormachte. Vielleicht war seine Unsterblichkeit die Strafe für all die Sünden die er im Namen des Imperators der Menschheit vollbringen musste.
„Wir haben die versteckte Botschaft, von der wir glauben, dass sie das Angriffssignal war, vollständig analysiert und in mit den astrometrischen Referenzen und den astropathischen Augur-Diagrammen verknüpft. Obwohl die Alphalegion über mehrere Relais gegangen ist, konnten wir Devekel als auserkorenes Ziel bestätigen.“
„Das ist nichts Neues…“
„Das nicht. Aber was, wenn ich dir sage, dass das Signal aufgespleißt wurde und somit auch an eine weitere Position gesendet wurde?“
„Was? Wohin?“ fragte Alexander aufgeregt und versuchte selbst darauf zu kommen.
„Die Kalkulationen laufen noch, aber wie es aussieht in den leeren Raum am Rande des Sektors.“
„Dann entsenden wir ein Aufklärungsschiff zu den Koordinaten.“ ordnete Alexander an und verschränkte zufrieden die Arme hinter dem Rücken.
„Das ist noch nicht alles. Wie es aussieht, wurde nicht nur der Angriffsbefehl dorthin übermittelt, sondern auch die Information über den eigentlichen Adressaten. Dieses Vorgehen ist äußerst untypisch für die Alphalegion, dennoch kann eine Unterwanderung ihrer Informationsnetze praktisch ausgeschlossen werden. Ich denke…“ Alexander hörte nicht mehr zu. Vor seinem Auge erschein ein Gesicht mit eisblauen Augen darin und einer faltigen, mit Dienststeckern verzierte Stirn. Den zugehörigen Namen presste er hervor als er sich an sein mit ihm verbundenes Versagen erinnerte.
„Sophokles.“