Ein Gehöft am Urskoy, nahe Bechafen
Das Verlangen wütete wieder in seinen Gedanken und bildete einen harten Kontrast zu der Stille, die Arkhâl umgab. Wolken hatten den Mond verdeckt, wodurch die Finsternis in der kleinen Kammer für einen Menschen unmöglich zu durchblicken war. Doch er selbst war nicht länger menschlich, hatte bessere Sinne, gewaltige Kraft und Schnelligkeit. Die Dielen knarrten leise unter seinen nackten Füßen, während sich der Werwolf einem Bett am Ende des Raums näherte. Ruhig ging der Atem der jungen Frau, die in ihren friedlichen Träumen gefangen war. Ein boshaftes Grinsen umspielte seine Lippen im Gedanken an das, was nun bevorstand.
Nun stand Arkhâl vor ihr und fing einzelne Details ihrer Gestalt auf. Er meinte zu erkennen, wie sich ihr Busen unter der Decke abzeichnete. Er sah in ihr Gesicht, das nicht durch das allgemeine Bild von Anmut so großartig war, denn es gab schönere als sie. Nein, in diesem Gesicht lag ein Frieden, der noch nie durch den Schrecken des Krieges oder der menschlichen Grausamkeit getrübt worden war. Er bewegte sein Gesicht langsam zu ihrem. Sein Bewusstsein drohte auszusetzen, als er den Wohlgeruch aufsog, der von seiner Beute ausging. Er empfand ihn wie den lauen Wind eines Spätsommertages, inmitten des hier allgegenwertigen bäuerlichen Gestanks. Langsam streckte er seine hagere Hand nach ihrem Haar aus und streichelte darüber. Dessen Farbe war in der Dunkelheit kaum wahrnehmbar, sie erinnerte den Werwolf an ein endloses Weizenfeld. Arkhâl schloss die Augen.
Und er öffnete sie wieder. Da stand er, inmitten von Ähren. Schweiß floss an seinem Jungenkörper herab, denn die Erntearbeit hatte ihm zu schaffen gemacht. Er ließ seinen Blick wandern, doch sah um sich nur ein Meer aus reifem Getreide, das an einigen Stellen bereits abgeerntet worden war, und in einiger Entfernung Bauerngehöfte. Die Sonne ging langsam unter und nahm dem Spätsommertag schleichend seine Wärme.
„Bernard!“
Er reagierte zuerst nicht auf den so fern klingenden Ruf und blieb einfach stehen. Da erklang er erneut.
„Bernard!“
Der Junge brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er gemeint war und drehte sich träge in die Herkunftsrichtung des Geräuschs.
„Verdammt, hör‘ auf zu träumen! Die Ernte holt sich nich‘ von selbst ein, wie oft soll ich es dir noch sagen? Unsere ritterlichen Herren lassen uns nicht viel, aber wenn Faulpelze wie du nicht ordentlich arbeiten, ist es noch weniger!“
„Ich mach ja schon weiter.“ Er erschrak vor seiner ungewohnt hohen Stimme. Mit blasigen Händen ergriff Bernard seine Sense und fegte große Mengen des Weizens um. So verging beinahe eine Stunde der Arbeit und er begann, seine dünne Kleidung als einzigen Schutz gegen die eintretende Kälte zu verfluchen.
Irgendetwas in seiner Nähe raschelte. Anfangs hielt es Bernard für irgendein kleines Tier. Doch es näherte sich zielstrebig seinem Standpunkt. Er fühlte sich verunsichert. Das Ding, was immer es war, musste schnell und vor allem groß sein. Krampfhaft packte er seine Sense. Suchend drehte er sich um die eigene Achse. Vielleicht konnte Bernard das Wesen zwischen den Ähren ausmachen. Ein letztes lautes Rascheln erklang. Es folgte Stille. Der Junge bebte am ganzen Körper. Rennen. Jetzt. Er wusste nicht, warum, aber schreckliche Panik hatte ihn ergriffen. Die rettenden Bauernhäuser befanden sich hinter ihm. Sie waren so weit weg. Es gab keine andere Wahl. Er drehte sich abrupt um. Das Tier schnellte schlagartig aus der Unsichtbarkeit auf ihn zu. Bernards panischer Schrei war kurz, denn ihm wurde die Luft aus den Lungen gedrückt, als der Körper des Wesens auf ihn prallte. Beißender Atem schlug ihm ins Gesicht. Krallen zerrrissen Kleidung und Haut wie Papier. Mit Entsetzen wurde der Blick des Jungen von den Augen dieser Bestie gefesselt. Klein und bösartig funkelten sie aus tiefen Höhlen im wolfsartigen Kopf, der chaotisch verzerrt erschien. Er gab sich seinem Schicksal hin, wartete mit von Tränen verschwommenem Sichtfeld das Ende ab.
Die Szenerie hatte sich erneut gewandelt. Die Dunkelheit verschlang alles rings um Arkhâl. Er brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Was war passiert? Wie lange stand er hier schon? Hatte man ihn entdeckt? Der Werwolf konzentrierte sich auf seine Sinne und nahm soviele Informationen auf, wie er nur konnte. Nein, alles ruhig. Niemand hatte etwas bemerkt. Selbst Arkhâls personifizierte Lust schlief ahnungslos weiter. Mit einem genussvollen Grollen aus der Tiefe seiner Kehle streckte er erneut die Hand aus und zog langsam die Decke herunter.[/b]