Inzwischen hab ich endlich auch eine Begründung für das Dasein der Abtei.
L’abbaye de la dame fleurée
Guiscard de Charolais war ein Baron und Ritter im Herzogtum Bastonne. Seine Familie war sehr alt, doch wenig bedeutend. Trotz einstiger Teilnahme an den Kreuzzügen nach Arabia hatten die Barone von Charolais nur bescheidenen Ruhm gesammelt und niemals einen Gralsritter hervorgebracht. Dies sollte sich erst mit Guiscard ändern, dem einzigen Kind seiner früh verstorbenen Eltern, der als letzter seines Geschlechts die ganze Verantwortung für dessen Ruf auf seinen Schultern lasten fühlte. Er war entschlossen, etwas Außergewöhnliches zu leisten, wofür er jeden Gedanken an eine vorteilhafte Ehe und die Geburt eines Stammhalters beiseite schob und bereits im frühen Alter von achtzehn Jahren den Questeid ablegte.
Zu jener Zeit machte ein aus Mousillon entflohener Nekromant die Gegend unsicher, belebte die Toten auf den Friedhöfen und brachte Schwärme von Fledermäusen und Vargheistern über die Dörfer der Baronie. Guiscard schwor, den Nekromanten zu jagen und nicht eher von seiner Quest abzulassen, als bis er dem Schwarzmagier eigenhändig den Kopf von den Schultern getrennt hätte. In seinem jugendlichen Ungestüm fiel es ihm nicht schwer, durch ganze Horden von Untoten bis zu ihrem Meister vorzudringen, doch es nützte ihm nichts: Der Nekromant nämlich besaß die übernatürliche Fähigkeit, von einem Augenblick zum nächsten zu verschwinden und an einem weit entfernten Ort wieder aufzutauchen.
So entspann sich ein Katz-und-Maus-Spiel, in dessen Verlauf Guiscard den Frevler zahllose Male stellte und stets aufs Neue verfehlte, weil es diesem jedes Mal gelang, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Jahre gingen ins Land, während Guiscard den Spuren seines Feindes folgte und einen Schlupfwinkel nach dem anderen aufstöberte, von den Ufern des Grismerie durch finstere Wälder bis zu den Hängen des Orkmassivs. Sein treues Pferd starb, sodass er ein neues erwerben musste; sein Wappenrock zerfiel, und sein Schild wurde modrig von Wind und Regen, bis er ihn schließlich fortwarf. Er schlief im Freien, zuweilen auch in den Hütten ansässiger Bauern, magerte ab, alterte - und blieb doch seinem Ziel treu, entschlossen, den einst geschworenen Eid unter keinen Umständen zu brechen. Auf seine Burg kehrte er kein einziges Mal zurück.
Mittlerweile war seine Queste im ganzen Land bekannt, und da sie bereits so lange andauerte, erregte sie die Bewunderung der einfachen Leute. Sie huldigten ihm wie einem Heiligen, wenn er durch ihre Dörfer zog, verköstigten ihn von ihrer kärglichen Speise und sangen Lieder zu seiner Ehre. Selbst eine Schar von Gralspilgern schloss sich ihm an, obwohl er noch kein Gralsritter war, aufgepeitscht von den flammenden Reden eines fanatischen Bauernsohns namens Odo.
Unglaubliche 22 Jahre lang dauerte die Queste des Guiscard de Charolais. Am Ende war er nur noch ein Schatten seiner selbst und kaum als Edelmann zu erkennen. Er zog in Lumpen daher wie ein Bettler; in seinen Augen jedoch leuchtete das Feuer ungebrochener Leidenschaft. Ein Traum führte ihn schließlich zu einer Quelle auf einem Hügel, und dort sah er im seichten Wasser ein Amulett schimmern, das mit dem Symbol der Fleur de lys geschmückt war. „Nimm dies und obsiege“, sagte eine körperlose Stimme zu ihm. Guiscard gehorchte, legte sich das Amulett um den Hals und setzte seine Jagd nach dem Nekromanten fort. Als er ihn das nächste Mal aufgestöbert und sich durch eine Legion wankender Untoter gekämpft hatte, stand er dem Nekromanten ein letztes Mal gegenüber – und siehe; der Zauber des Schwarzmagiers versagte, gebannt durch das schimmernde Amulett. Guiscard hob sein Schwert mit beiden Händen und erfüllte seinen Eid, indem er das Haupt des Frevlers vom Körper trennte.
Hiernach kehrte er zu der Quelle zurück und beschloss, das Amulett wieder ins Wasser zu legen, wo er es gefunden hatte. „Dein ist es und nicht mein, o Herrin“, sprach er. Und seine Treue wurde belohnt, denn der Quelle entstieg in leuchtendem Glanz die Herrin des Sees, gekleidet in ein Gewand aus verflochtenen Blumen, das Haupt geschmückt mit einem Blütenkranz. Sie segnete Guiscard, der ergriffen niederkniete, reichte ihm den Gral zum Trunk und nannte ihn einen der treuesten und tapfersten Edlen, die ihr je gedient hatten. Gesundheit und langes Leben beschied sie ihm, und Aufnahme in die Anderswelt nach seinem Ende.
Dieses Erlebnis rührte Guiscard so sehr, dass er beschloss, sein gesamtes restliches Leben der Verehrung der Herrin zu weihen. Er kehrte auf seine heimatliche Burg zurück, doch nicht etwa, um seine Herrschaft wieder anzutreten. Stattdessen legte er seinen Titel nieder und entsagte all seinen weltlichen Ländereien und Besitztümern. Nur eine Truhe voll Gold aus der Schatzkammer seiner Familie bat er sich aus. Die Gralspilger jubelten, als er die Burg in einfachem Gewand und ohne jeden Schmuck verließ, und der fanatische Odo pries laut diesen Akt der Entsagung. Guiscard aber verwendete das Gold, um die Pilger als Boten in alle größeren Städte zu senden und Baumeister, Steinmetze und andere Handwerker anzuwerben. Sein Plan war nämlich, das prächtigste Heiligtum zu errichten, in dem die Herrin vom See jemals verehrt worden war: genau an jenem Ort, wo sie blumenbekränzt der spiegelnden Quelle entstiegen war.
Die Baumeister fanden sich ein, und ihnen folgten zahlreiche Pilger, um beim Bau zu helfen, in der Hoffnung auf einen Anteil am Segen der Herrin. In den folgenden Jahrzehnten wuchs das anfangs bescheidene Feldheiligtum zu einer prächtigen Wehranlage empor, in deren Mitte eine mächtige Kirche thronte. Zahlreiche Gralspilger ließen sich dort nieder, aber auch zugewanderte Schreiber, Künstler und Maler, und es entstanden Wohnhäuser, Ställe, Gärten, ein Hospital und selbst eine Bibliothek, in der wundervolle Manuskripte zum Ruhm der Herrin angefertigt wurden. Guiscard nannte sein Lebenswerk L’Abbaye de la dame fleurée, und es war die Freude seiner späten frommen Jahre, wenn Pilger aus ganz Bretonia sie durch Schenkungen, Kunstwerke, Schriftrollen und Statuen bereicherten. Als Guiscard schließlich in hohem Alter starb, wurde er gemäß seinem Willen in einem Sarkophag inmitten der Kirche beigesetzt, und daraufhin entwickelte sich die Abbaye erst recht zu einem Wallfahrtsort. Questritter machten hier Station, um an der heiligen Quelle zu beten und vor dem Sarkophag zu knien, und viele hinterließen ihr Wappen an den Kirchenwänden nebst großzügigen Zuwendungen an die Klostergemeinschaft.
Deren Kopf war nun der einstige Bauernsohn Odo, und zwar – angeblich – nach dem letzten Willen des verstorbenen Guiscard. Es gab ein entsprechendes Dokument von Guiscards Hand, wenngleich Zweifler munkelten, es handle sich womöglich um eine geschickte Fälschung. Odo jedoch regierte die Abtei mit fester Hand und seinem Talent als charismatischer Führer und Redner, wobei er sich selbst als Sprachrohr des Verstorbenen inszenierte. Seit jener Zeit führt "Odo l’abbé", wie er sich nennen lässt, die Verwaltung der Abtei und gebietet über mehrere Dutzend Mönche, Knechte und sogar eine Wachmannschaft aus Landsknechten. Er ist damit nahezu der einzige Gemeine in ganz Bretonia, der jemals zu einem gutsherrlichen Leben gelangte, da die Abtei durch Schenkungen auch Land im Umkreis und damit die Lehensgewalt über mehrere Dörfer erhielt. Diese Sonderstellung polarisiert beim bretonischen Erbadel: Viele besuchen die Abtei und behandeln Odo fast wie einen Gleichrangigen; andere halten ihn für einen Emporkömmling und setzen sich bei Hofe dafür ein, die Abtei spätestens nach Odos Tod in den Privatbesitz des Herzogs von Bastonne zu überführen. Keiner aber meidet den Ort, wenn er auf eine Queste auszieht und sich eines besonderen Segens der Herrin versichern will, was immer er von den Mönchen und ihrem selbstherrlichen Oberhaupt auch halten mag.